Die Wahrheit, die es nur zu zweien gibt

Der Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und ihrem Ehemann, Heinrich Blücher  ■ Von Marie-Luise Knott

Paris, Frühjahr 1936. Hannah Arendt, verheiratet mit Günther Anders, empfängt in ihrer Wohnung einen Herrn mit Anzug, Hut und Spazierstock. „Monsieur“, wie sie ihn ironisch nennt, ist ein deutscher Kommunist, der ohne Papiere geflohen ist und sich alle Mühe gibt, in Paris nicht aufzufallen. „Monsieur“, kein geringerer als Arendts späterer Lebens- und Denkgefährte Heinrich Blücher, wird diesen Namen: „Monsieur“, sein Leben behalten, diesen Namen, der dem Wunsch nach Nichterkennbarkeit geschuldet ist. Quel camouflage! Jetzt – aus Anlaß von Hannah Arendts neunzigster Geburtstag – legt die Nachlaßverwalterin Lotte Köhler die Korrespondenz dieser „Doppelmonarchie“ (Karl Jaspers) vor. Hier hat „Monsieur“ andere Namen: meist „Stups“. Sie selber heißt vielfach „Schnupper“ – männlich, wohlgemerkt. Auch sie redet von sich selber als „Dein Schnupper“. „Monsieur“ gibt sich zu erkennen, und heraus kommt eine wunderschöne Liebesgeschichte, eine respektvolle Beziehung, die diesen beiden Geflohenen ein Zuhause ist.

Briefe der Liebe sind der schnöde und sprachlich meist überhöhende Ersatz für fehlendes Miteinander. Sie dokumentieren die Phasen der Trennung. In diesem Fall ist es die Frau, die reist, und so bestimmt sich der Rhythmus der Briefe dadurch, wann und warum Hannah Arendt sich von Blücher entfernt hat. Er selber ist nahezu stetig ... daheim. 1936 liegt dieses Daheim in Paris. Er bleibt, sie reist zur Gründung des Jüdischen Weltkongresses nach Genf. Es folgt die Internierung der deutschen Männer bei Kriegsbeginn, danach die Heirat.

Nach der gemeinsamen Emigration 1941 in die Vereinigten Staaten gibt es kürzere Trennungen. Die Briefe jener Zeit vermitteln erste Eindrücke der Fremde. 1949 dann reist Hannah Arendt erstmals wieder nach Deutschland. „Does Germany still exist?“ fragt sie und konstatiert zunächst: „Die Deutschen leben von der Lebenslüge und der Dummheit.“ Aber dann – Berlin, diese Stadt, in der sie beide einmal gelebt haben: „Stups, von Spandau bis Neukölln, ein einziges Trümmerfeld ... aber was es noch gibt, sind die Berliner. Unverändert, großartig ...“ Hier stößt sie erstmals auf Leute, die die Ruinen nicht den Alliierten, sondern Adolf Hitler anlasten, und die sich politisch verhalten: Im Blockadewinter, so kolportiert sie, weigerten sich die Westberliner, bei den Russen Kohle zu holen, und „zogen es vor, zu frieren, um den Amerikanern eine Chance zu geben. Unbegreiflich, aber wahr.“ Fazit: Nur hier, in Berlin, „gibt es noch so was wie Deutschland. Mir ist das Herz warm und ich denke an Dich und bin von einem Alpdruck, dem Alpdruck des Suchens und Nichtfindens, befreit.“

Viele Male noch reist Hannah Arendt in den fünfziger Jahren nach Europa, forscht, hält Vorträge. Sie besucht beides, Land und Leute, und da Blücher zu Hause bleibt, beschreibt sie ihm, was er sehen könnte. Die Familie sowie die alten Freunde (Anne Weil, Karl Jaspers, später Mary Mc Carthy) sind der emotionale Ruhepunkt in der Fremde, die ihr doch zeitlebens Bedrohung bleibt: „Endlich nach Hause und nie wieder Krieg“, schreibt sie ihm Ende der fünfziger Jahre scheinbar unvermittelt aus Europa.

Die Briefe zeugen von Zusammenkünften mit Prominenten der Zeit – Camus, Sartre, Jeanne Herrsch, Ceslav Milosź und viele mehr, verbunden vielfach mit treffsicheren Kommentaren. Sie reist nach Frankreich, nach Italien, nach Griechenland, und immer wieder nach Deutschland, das ihr in den Fünfzigern direkt „unheimlich“ ist. „Nur mit den Jungen“, konstatiert sie 1958, „da ist was los!“

Man kann den Briefwechsel in drei Phasen unterteilen. In einer ersten, eher lyrischen Phase (1936–39), dominiert bei der Trennung neben der trostlosen Weltlage die Sehnsucht. Quell des Trostes ist die Lyrik. Goethe, Brecht, Heine. In der zweiten Phase (1941–1955) dominiert die Suche, die Auseinandersetzung mit Freunden um die Dringlichkeit, nach der „Bluthölle“ des Totalitarismus eine menschliche Welt zu schaffen. In der dritten Phase (ab 1955) haben beide wieder Boden unter den Füßen, die Kommentare sind oft knapper, ironischer. Lakonisch notiert sie, als sie 1958 gebeten wird, eine Laudatio für Jaspers zu halten und man ihr gegenüber betont, daß dann erstmals eine Frau in der Frankfurter Paulskirche reden würde: „Sommersprossen sind auch Gesichtspunkte!“

1955 reist sie erstmals (seit 1935) nach Israel. Es ist „trauriger und weniger erbitternd, als ich dachte“, schreibt sie. Und sie, die im Pariser Exil bei der Auswanderung junger Juden nach Palästina mitgewirkt hatte, muß nun bei ihrem Besuch im Kibbuz feststellen: „Verfall, Verwahrlosung [...] bis in die verschmutzten Eßsäle und die menschlichen Beziehungen!“ Blücher lehrt und bleibt daheim. Er ist ihr Daheim: „O Gott, Stups, die 4 Wände, die Du für mich bist!“

Von der Angst, verlorenzugehen

Und doch: es gibt eine Trennung, die nicht in den Briefen dokumentiert ist, eine Zeit, in der keiner vom anderen wußte, da beide interniert waren, und jeder vom anderen das Schlimmste befürchten mußte: den Tod. Das Bangen umeinander, all die Briefe, die in dieser Zeit nicht geschrieben werden konnten, haben sich eingeschrieben in alle zukünftigen. Immer wieder fürchtet Hannah Arendt, auf ihren Reisen „verlorenzugehen“, und einmal, 1952, als sie von Blücher länger als eine Woche keinen Brief bekommt, hagelt es herbe Vorwürfe: „Warum läßt Du mich wieder ohne Nachricht? [...] Verstehst Du denn nicht, daß jede Nachricht besser ist als dies?“ Hier erklingt es wieder, das Bangen um den anderen – wie zu Kriegszeiten.

„Die Weltgeschichte – die Gasöfen“, das ist, so erfahren wir aus den Briefen, die Lebensgrundlage beider. Die Frage nach dem Wesen des Menschen und nach den Möglichkeiten politischen Handelns, diese Frage, die sich im Angesicht der „Fabrikation von Leichen“ mit neuartiger Dringlichkeit stellt, ja, zu einer Revision des Gedachten nötigt, durchzieht den Briefwechsel wie das gesamte Arendtsche Werk. Wie ist menschliches Inter- esse (Zusammenleben) nach dem Totalitarismus möglich?

Jede weltpolitische Krise ist diesen beiden Exflüchtlingen eine existentielle Bedrohung. 1956 schreibt sie aus Deutschland: „Liebster, laß bloß jetzt nicht die Verbindung abreißen und riskiere lieber ein Telegramm zu viel als zu wenig.“ Und er aus Amerika: „Wir treffen uns in Bard, wenn etwas passieren sollte.“

Vom Himmel der weltlichen Möglichkeit

Nichts steht zwischen uns, „als daß wir keine gemeinsame Welt haben werden“, schreibt Hannah Arendt 1936. Und tatsächlich: Als sie sich in Paris kennenlernten, kamen diese beiden Füchtlinge zwar aus demselben Nazi-Deutschland, doch von zwei völlig verschiedenen Sternen. Er, 1918 ein Spartakist, dann in der KPD, 1923 im Zuge der Bolschewisierung ausgeschlossen, Mitglied der dissidentischen KPO, sucht im Exil, 1938, eine Neuorientierung: „Daß die Menschen immer dann am liebsten losrennen wollen, wenn unbekanntes und dunkles Gelände vor ihnen liegt, ist einfach Panik, die sie obendrein als Heldenmut bezeichnen. Ich bin aber entschlossen, so feige zu sein, erst einmal ein Licht anzuzünden.“

Diese Suche ist es, die ihn in ihre Arme treibt. Bei ihr ist die Bewegung umgekehrt: Sie, die durch „die Weltgeschichte“ aus der Philosophie in den Bereich des (politischen) Handelns vertrieben wurde, verfügt zwar über einiges geistiges Rüstzeug, doch dieses ist stumpf, unnütz. Die Notwendigkeit des Politischen wird sie in seine Arme getrieben haben.

Zunehmend wächst eine gemeinsame Welt heran. Er (der kein Studium absolvierte) wird 1945 Dozent für Philosophie und Kunstgeschichte und schreibt ihr 1948 in einem rasanten Ritt durch die Jahrhunderte seine Abrechnung mit der abendländischen Philosophie. Er schließt: „Die Traumhimmel und die Ersatzhimmel hatte ich weggezogen, und nun sollte der Himmel der reinen weltlichen Möglichkeit sich unverstellt zeigen. Pustekuchen! Immer wieder zogen mir die Schwaden der übriggebliebenen Begriffsdämpfe darüber hin.“

Den Himmel „der reinen weltlichen Möglichkeiten“ werden sie gemeinsam politisch und philosophisch erkunden. Sein Beitrag ist offensichtlich: Er, der Kommunist, hat sie Marx lesen gelehrt und ihre Aufmerksamkeit auf die Funktionsweise des Stalinismus gelenkt – eine brennende Frage für einen mit seiner Vergangenheit und ein wichtiger Baustein ihrer Totalitarismustheorie.

Hannah Arendt wird ihrer Studie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ eine Widmung für Blücher voranstellen. Von ihm gibt es so gut wie kein gedrucktes Wort. Er selber hat seine Beschränkung auf das Gesprochene einmal beschrieben. Die gute Fee sei gekommen und habe beschlossen, „Dieser Junge soll Urteilskraft haben.“ Doch die böse Fee habe die gute Fee unterbrochen und den Satz beendet, „und sonst nichts“. Sein Fazit: „Dabei bleibt es wohl.“

Der Leser der Briefe erfährt, in welchem Ausmaß beider Denken ein Miteinander gewesen ist. Einmal fragt sie sich, ob sie ihre Montesquieu-Forschungen nach der Reise wohl weiterführen wird. „Wird Stups dann entscheiden“, konstatiert sie, und weiter: „Ach Liebster, Nietzsche hat gesagt – wie Jaspers gerade berichtete – Wahrheit gibt es nur zu zweien. Ich allein jedenfalls könnte es nie.“

Hannah Arendt/Heinrich Blücher: „Briefe, 1936–1968“. Hg. von Lotte Köhler. Piper Verlag, 597 Seiten, 49,80 DM