Beschädigtes Leben

Roddy Doyle erkundet in seinem neuen Roman „Die Frau, die gegen Türen lief“ mit großer Genauigkeit das Innenleben einer geschundenen Frau  ■ Von Thomas Plaul

Roddy Doyle ist neben Seamus Heaney der erfolgreichste zeitgenössische Autor Irlands. Bekanntgeworden ist der 38jährige Dubliner mit seiner „Barrytown Trilogie“, die hierzulande zunächst Einzug über die Kinoleinwand hielt. Nach „The Commitments“ und „The Snapper“ kommt nun, pünktlich zum Irland-Schwerpunktthema der Frankfurter Buchmesse, auch die Verfilmung des dritten Teils in die deutschen Kinos, unter dem Titel „Fisch und Chips“.

Nachdem Roddy Doyle 1993 für seinen vierten Roman, „Paddy Clarke Ha Ha Ha“, den Booker- Preis erhielt, schrieb er als nächstes das Drehbuch zu dem 1994 ausgestrahlten, heftig umstrittenen Fernsehvierteiler „Family“. Der fiktive Schauplatz seiner Romane, „Barrytown“, wurde hier gegen einen real existierenden getauscht – „Family“ spielte in Ballymun, einem an Dublins nördlicher Peripherie gelegenen sozialen Brennpunkt – und anders als in seinen Büchern wurden die Reizthemen wie Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Sexualität und Gewalt nicht mehr komisch abgefedert: „Family“ schilderte in drastischen Bildern den Überlebenskampf einer gewissen Familie Spencer.

Mit seinem nun vorliegenden fünften Roman „Die Frau, die gegen Tören rannte“ knüpft Doyle an die Geschichte aus der Fernsehserie an. Im Mittelpunkt des Buches steht Paula Spencer, eine seit Jahren von ihrem Mann geschlagene und vergewaltigte Ehefrau und Mutter. Die alkoholkranke Paula lebt mittlerweile mit ihren Kindern allein, nachdem Charlo aus ihrem Leben verschwunden ist: Erst warf sie ihn aus dem Haus, dann wurde er auf der Flucht nach einem Raubmord von der Polizei erschossen.

Der Romantext gibt den Versuch der Ich-Erzählerin Paula wieder, die Trümmer ihres Bewußtseins und ihrer Identität zusammenzusuchen, um sie zu einem einheitlichen Bild zu fügen. Doch die Fakten allein, an die zu halten sie sich immer wieder selbst aufruft, ergeben kein schlüssiges Bild. So bleibt Paulas Versuch, das zu verstehen, was in den achtzehn Jahren ihrer Ehe schiefgelaufen ist, fragmentarisch. Zu viele Teile sind aus ihrer Lebensgeschichte brutal herausgebrochen worden. Roddy Doyle vermeidet es, die offenen Wunden seiner mißhandelten Figur mit einem sozialpsychologischen Faden zu vernähen: „Charlo Spencer wurde arbeitslos und fing an, seine Frau zu vertrimmen. So einfach ist es nicht. Er fing an zu klauen. Er hat eine Frau erschossen, weil er keine Arbeit hatte und von der Gesellschaft abgelehnt wurde. Schön wär's ja, wenn es so einfach wäre.“ Paula resümiert ihr bisheriges Leben als Desillusionierungsprozeß, in dem sich ihre Mädchenträume als Seifenblasen erwiesen, in die ihr einstiger Traummann Charlo seine Faust hineinstieß. Doch der leise Hoffnungsschimmer, der mit Paulas „Befreiung“ von der Tyrannei Charlos einhergeht, vermag den Grundton der Traurigkeit, der diesem Buch untergelegt ist, nicht zu übertönen.

Roddy Doyles Talent, den Charakter und die Verfassung seiner Figuren allein durch die Art und Weise kenntlich zu machen, wie sie Sätze bauen, wie sie die Sprache verwenden, ist außerordentlich. Das gilt für alle seine Romane: Die innere Struktur eines Menschen ist selbst ein Text, der sich in der Sprache dieses Menschen noch einmal formiert. In „Die Frau, die gegen Türen rannte“ schreibt Paula immer dann von sich in der dritten Person, wenn der Grad der Selbstentfremdung am größten ist. Erzählweise und Sprachrhythmus entsprechen der jeweiligen Situation in Paulas Leben: Erinnert sie sich an ihre unbelastete Kindheit, fließen die Sätze ruhig dahin, hat sie ihre Verliebtheit in Charlo im Sinn, strotzt die Schilderung von Übermut und Witz. Doch wo sie gerade noch hoffnungsvoll von ihren Kindern schreibt, brechen sich plötzlich atemlose Darstellungen von Charlos Gewalt Bahn.

Autor auf Augenhöhe mit seiner Figur

Der Text folgt keiner Chronologie der Ereignisse, Paulas Schreib- und Erinnerungsfluß wird immer wieder von bedrängenden Wortstakkati durchschlagen, in denen sich der Text verdichtet und dem Leser geradezu körperlich naherückt: „Gebrochene Nase. Lockere Zähne. Angeknackste Rippen. Gebrochener Finger. Blaue Augen, jede Menge. Schultern, Ellbogen, Knie, Handgelenke. Platzwunden am Mund. Naht am Kinn. Geplatztes Trommelfell. Brandwunden. Zigaretten an Armen und Beinen. Geprügelt, getreten, gestoßen, verbrannt ... Er sperrte mich ein und sperrte mich aus. Tat mir weh tat mir weh tat mir weh. Er machte mich in Raten tot.“

Roddy Doyles Sprachvirtuosität verleiht dem Text die innere Spannung, zumal der Autor sich nie belehrend über seine Figur oder über ihre Situation erhebt. Gerade die Brüche im Text, Paulas Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten sind es, die sie als glaubwürdige Figur erscheinen lassen. Dadurch, daß Doyle sein Material – die Sprache Paulas – kontrolliert, vermag er als Autor hinter den Text zurückzutreten. Ein wichtiger Punkt: Schließlich schreibt hier ein Mann die Innenansichten einer Frau. Mit „Die Frau, die gegen Türen rannte“ ist Roddy Doyle ein beeindruckendes Psychogramm einer verletzten Frau gelungen. Ein ungemütlicher und beklemmender Roman, der von Renate Orth-Guttmann hervorragend übertragen worden ist. Die Übersetzung trifft Paulas unterschiedliche Tonlagen, ihre zuweilen zärtliche, manchmal auch komische, zumeist aber von Qual und Angst gehetzte Sprache. Eine Sprache, die einiges über die Wirklichkeit von Irlands Heiligtum „Familie“ aussagt, wenngleich das Geschilderte beileibe nicht nur auf irische Verhältnisse zutrifft.

Roddy Doyle: „Die Frau, die gegen Türen rannte“. Roman. Aus dem Englischen von Renate Orth- Guttmann. Wolfgang Krüger Verlag, 240 Seiten, 34 DM