Ein heiterer Blick aufs Elend

Furioses Debüt eines älteren Herrn – Frank McCourts Roman über das Glück im Unglück irischer Kindheit: „Die Asche meiner Mutter“  ■ Von Walter van Rossum

Tagesbefehl: McCourt lesen! Dabei würde ich es eigentlich gerne belassen.

Nicht der Zackigkeit halber, sondern um die Liebe nicht mit dem Lärm der Wörter zu behelligen. „Die interpretierte Religion ist die abgeschaffte Religion“, hat Maurice Merleau-Ponty geschrieben. Bei Büchern geht es manchmal ähnlich. Allenfalls möchte ich noch gerne hinzufügen, daß ich an einem geschäftigen Freitagnachmittag drei Stunden auf dem Münchner Flughafen warten mußte und daran keine Erinnerung habe, außer eine Insel der Stille gegründet zu haben mit Frank McCourts „Die Asche meiner Mutter“ in den Händen, auf den Lippen, im Sinn. Damit sind wir mittendrin im Liebeserklärungstext.

Was ich mit Irland zu tun habe? Nicht viel. War zweimal da, habe die grün belichtete Melancholie getrunken, ferienhalber und halbwegs sicher, dies nur in den Ferien aushalten zu können. Mein Bruder fährt einmal im Jahr in dieses Reich aus Licht und Regen, um die Welt zu vergessen. Und die Iren wandern nach Amerika aus, um die Welt zu finden. So hat es auch Frank McCourt getan. Im Alter von 19 Jahren ist er in das Gelobte Land emigriert. Da endet sein Erinnerungsbuch. Er hat über 40 Jahre gebraucht, um nach seiner Pensionierung – er hat als Lehrer an einer New Yorker High-School gearbeitet –, um dies erste, einzige und vermutlich letzte Buch zu schreiben.

Wo er herkam? Es muß irgendwo auf der Classon Avenue in Brooklyn, N. Y., gewesen sein, da trafen sich auf einer Party ein Ex- IRA-Aktivist, der Irland auf dem Fluchtweg verlassen mußte und unterwegs von der „irischen Krankheit“ – dem Saufen – befallen wurde und die noch ganz junge und hübsche Angela, ebenfalls aus Irland, die soeben von ihrer Mutter nach Amerika abgeschoben worden war. Und sogleich schob Malachy McCourt seine „Aufregung“ in ... ja, da wird der kleine daraus entstehende Frankie noch lange brauchen, bis er herauskriegt, wie das aussieht und heißt, „denn Frauen haben ,keine Ausstrahlung‘, wie Mickey Malloy zu sagen pflegte.“

Eine glückliche Kindheit lohnt kaum

Jedenfalls wurde eine Nummer an der Mauer im Stehen geschoben. Hier nimmt Frank McCourts Kindheit ihren Lauf, erst mal vier Jahre in Brooklyn, und man könnte glauben, die Misere hätte hier schon ihren Höhepunkt erreicht. Kinder werden geboren und sterben in Lumpen gehüllt, der Vater säuft, die Mutter röchelt im Kummer. Die vielköpfige Familie flieht nach Irland und jetzt beginnt erst der richtige Leidensweg: „Natürlich hatte ich eine unglückliche Kindheit; eine glückliche Kindheit lohnt sich ja kaum. Schlimmer als die normale unglückliche Kindheit ist die unglückliche irische Kindheit, und noch schlimmer ist die unglückliche irische katholische Kindheit.“ Ein später nach Amerika Ausgewanderter geht mit dem Irland seiner Kindheit ins Gericht, vielleicht mit dem ganzen uralten, gewalttätigen Europa und der Dunstglocke seiner erstickenden Zivilisation. Das Buch handelt hauptsächlich vom Irland der Jahre 1934–1949, aber es ist vielleicht auch ein Buch über den Stoff, aus dem Amerika ist, dem verklappten europäischen Menschenmüll, der sich noch gerade aus der Enge, von den nicht aussterbenden Despoten und endlosen Kriegen in das Versprechen von Licht geflüchtet hat.

Eine lange heitere Abrechnung mit dem irischen Elend, das ist das Wagnis dieser irischen Erinnerungen. Man spürt, Frank McCourt hat sie 40 Jahre in sich köcheln lassen, und deshalb tut er dem Land seiner Kindheit nicht die Ehre des Hasses an, sondern überzieht es mit dem Gift des Spotts. Er hetzt die Geiseln seines Unglücks mit sämtlichen Höllenhunden des Humors. Aber er kalauert nicht von Episode zu Episode. Er erzählt aus der staunenden Perspektive des Kindes, das nicht versteht, aber genau beobachtet, und so liefert er uns den unbehauenen Sinn der ganzen Roheit. McCourt produziert einen Sound, in dem die Bitterkeit verwahrt bleibt, aber nicht zum Jammergruß wird, ein Sound, der die Armut und die Einsamkeit der Dreckfresser zum grotesken Abenteuer macht. Ein Abenteuer, das ihn hätte verschlingen können. Kein Held hat Krankheit und Hunger und Kummer bezwungen, ein Kind nur, ein Zeuge und Opfer von Gewalt und Wahn, von Armut, Hunger und Tod, hat überlebt. Es hatte das Glück, ein bißchen Mut zu fassen und für das bißchen Liebe, das ihm begegnete, empfänglich zu bleiben.

Ein Sound, 500 Seiten durchgehalten – und auf keiner Zeile abgerutscht ins Zynische oder Tiefsinnige. Harry Rowohlt hat das Buch so übersetzt, daß einem jetzt schon die Dänen, Franzosen, Holländer oder Norweger leid tun, bei denen das Buch zeitgleich erscheint. Keine Tiefenbohrinsel des Luxus. Das Elend macht keinen Sinn, kennt keine Schönheit, und wer Poesie darin entdecken will, der hat noch nicht das Fett von alten Zeitungen ablecken müssen, in die mal Fisch und Fritten gewickelt waren.

Worte sind auch gut und was einer sagt

Die Menschen rücken nicht näher, sondern verachten einander um so mehr: die Irren und irreparabel Verhärteten, die kleingemachten Großherzen, die verstörten Säufer, die irischen Mythenschinder, die vertrockneten Mütter, die Fundamentalisten des Schreckens und die grausamen Visagen der Barmherzigkeit. Dann und wann ein wundersamer, versponnener Kauz, liebenswürdig, aber außer Reichweite, gerettet in Vereinzelung. Nie wurde böser geschrieben, was der real existierende Katholizismus noch in diesem Jahrhundert den Menschen angetan hat: Prügel, Terror, Gemeinheit und das Schlimmste: das tief in die Menschen reingeprügelte Verbot, einen eigenen Gedanken zu fassen. Das effiziente Kalkwerk des Heiligen Geistes und sein Personal – Priester, Lehrer, Nonnen – arbeitet so raffiniert, daß sich die Geschundenen noch ihrer Wunden schämen und um Vergebung wimmern. „Worte sind auch gut und was einer sagt“, stammelt Franz Biberkopf. Hier fallen kaum gute Worte. Fast stumm sind auch die beiden heimlichen Hauptfiguren des Buches: Vater und Mutter. Der Vater, gebrochener Mythomane der irischen Rebellion und trotzdem oder deshalb haltloser Säufer, und die von allem, was sie nicht sagen und fühlen durfte, erstickte Mutter. Gegen den Bitterstoff des Erzählten rebelliert die zärtliche Leichtigkeit des Tons dieses De profundis.

Rezensentenkummer: Alles nur im Eifer der Begriffe begriffen, mag ja stimmen, aber Frank McCourt hat seine Erinnerungen gepfiffen. Das geht unter die Haut und tut da, was nur die beste Literatur kann: Der Gesang vermischt sich mit einem und mischt auf.

Frank McCourt: „Die Asche meiner Mutter. Irische Erinnerungen“. Deutsch von Harry Rowohlt. Luchterhand Verlag, 508 Seiten, geb., 48 DM