Die Nacht der Voyeure

■ Zur Uraufführung von Alexander Zemlinskys Oper „Der König Kandaules“

Zum Ausklang der Ära Albrecht/Ruzicka läßt sich die Hamburgische Staatsoper nicht lumpen: Im Januar 1997 wird Helmut Lachenmanns Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern uraufgeführt, jetzt am 6. Oktober, wird ein neuer „Zemlinsky“ aus der Taufe gehoben.

Im Jahre 1991 bekam der 1949 in London geborene Musiker Antony Beaumont den Auftrag, die von Zemlinsky unvollendet hinterlassene Oper Der König Kandaules zu vervollständigen. Eine mühsame Arbeit, die auch kompositorische Eingriffe verlangte. Hamburgs Opernhaus zählte zu den ersten deutschen Bühnen, die den Ende der 70er Jahre wiederentdeckten Alexander Zemlinsky mit Aufführungen seiner Opern-Einakter Eine florentinische Tragödie und Der Geburtstag der Infantin ehrten.

Viele Jahre stand Zemlinskys Musik im Schatten Gustav Mahlers und Arnold Schönbergs. Ästhetisch zwischen traditioneller und fortschrittlicher Musik angesiedelt, fand Zemlinsky und sein Werk nie ein richtiges Zuhause. 1934 wurde der Komponist zur Zielscheibe ideologischer Angriffe, die seine Musik von deutschen Bühnen verbannten.

Bis zu seiner Emigration nach Amerika (1938) arbeitete er an seiner letzten Oper. Unvollendet landete sie in der Schublade, da eine pikante Nacktszene im 2.Akt dem Publikum der Metropolitan Opera nicht zuzumuten war.

Der König Kandaules ist eine Oper aus der plüschigen Welt des Fin-de-siècle. Überreizte Nerven unbefriedigter Ästheten lüstern nach Stimulation. Diese Stimmung geistert auch im Theaterstück Le Roi Candaule (1899) von André Gide, der Vorlage für Zemlinskys Libretto. Anfänglich tat sich Regisseur Günter Krämer, der in Hamburg mit seiner Ring-Inszenierung (1992/93) einiges Aufsehen erregt hatte, schwer mit der süßlichen Sprache des Textes. Doch nach Gesprächen mit dem Dirigenten Gerd Albrecht, der auch diese Premiere dirigieren wird, war das Eis gebrochen.

Zum Inhalt: Kandaules, der orientalische Potentat, prahlt mit seiner schönen Frau Nyssia, nimmt ihr den Schleier, macht sie zum Lustobjekt. Der Fischer Gyges, mit einem Unsichtbarkeit herbeizaubernden Ring ausgestattet, soll Nyssia im Schlafzimmer, also nackt, beobachten und schmachten. Doch alles kommt anders. Er schläft mit der Schönen, die wiederum nun Gyges zum Mord an König Kandaules anstachelt. Diese für orientalische Märchenstoffe recht ungewöhnliche Entwicklung hat Regisseur Krämer sehr gereizt.

„Die Frau macht keinen Selbstmord, sondern läßt am Ende ihren Mann umbringen und übernimmt die Herrschaft. Den Mörder Gyges bestimmt sie dann als ihren Mann. Da ist ein anderes Bewußtsein als bei den suizidalen Damen, die sich am Ende aus Unglück immer umbringen.“

An unheimlicher Tagesaktualität, betrachtet man den kulturellen Habitus der Verschleierung, mangelt es kaum. Stichwort Afghanistan: Nach dem Sieg der Taliban-Miliz begegnet man jetzt in Kabul wieder verschleierten Frauen. Krämers Sicht auf den zunächst bedrohlichen Schleier ist allerdings mit den Kurzschlüssen der Tagespolitik nicht zu erklären. „Nun ist es in dieser Oper so: Die Frau akzeptiert dieses Kleidungsstück, den Tschador, als einen Schutz, der sie vor den Blicken der Männer schützt. Das können wir Westeuropäer nicht verstehen und wir haben nicht darüber zu richten, ob das ein Schritt ins Mittelalter ist.“

Krämer geht es nicht um die Entdeckung einer politisch korrekten Frauenoper. Denn da ist noch der mächtige Kandaules, der schamlose Voyeur, der sich daran ergötzt, wenn die Schönheit seiner entschleierten Frau bei anderen Männern Neid verursacht. „Er benutzt mit dem Fischer Gyges einen Mann aus dem Volke um neue Anreize für seine Frau zu bekommen. Der Voyeurismus ist ein modernes Mittel, um Beziehungen am Leben zu erhalten. Trotz dieses märchenhaften Sujets gibt es hier klare Bezüge zur Gegenwart, eben die Unfähigkeit zur Liebe und zum Zusammensein.“Krämer wird keine schwulstige Dreiecksbeziehung inszenieren, er nimmt vielmehr die Mechanismen der Schamhaftigkeit unter die Lupe und inszeniert so ein Stück über die Kunst des Nichtentblößens, das von verschwenderischen, wollüstigen Klängen begleitet wird. Sven Ahnert