Tanzen, Tönen und Erwachsenwerden

■ In „Chiara - Haus für Übergangskultur“ sollen Menschen ihre Lebensphasen beenden und beginnen

Auf die Frage, warum sie gerne mit Mädchen arbeiten möchte, antwortet Christiane Schneider (Anfang Vierzig): „Weil ich ein Mädchen bin.“ Christiane Schneider ist außerdem seit zehn Jahren Akupunktmasseurin und Gestaltberaterin und hat seit kurzem das Seminar „Mädchen in der School-Out-Situation“ in ihrem therapeutischen Programm. Der Zulauf ist gleich null. Und Christiane Schneider beharrt: „Ich finde, daß so etwas in unserer Gesellschaft fehlt.“

Was fehlt, beschreibt die Beraterin in einem Rekordjahr der Jugendarbeitslosigkeit mit „Visionen, Kreativität und das Nutzen von Potential“. Sie holt weit aus, blickt sinnierend zurück in ihre eigene Jugend und findet, die Pubertät sei doch eine Zeit, in der die jungen Leute immens viel durchschauen. „Die Teenies sehen, was wahr ist und wo die Leute lügen, und das sollte genutzt werden. Da sind Ideen, die ich schon nicht mehr habe.“ Was das einer jungen Frau ohne Aussicht auf eine Lehrstelle bringen soll? „Lebenslust und den Satz, daß du da etwas entwickeln kannst.“

Diesen Satz würde Christiane Schneider den Mädchen nach rund 60.000 in der Schule verbrachten Lebensstunden gerne mit auf den Weg geben. Und sie will zusammen mit LehrerInnen überlegen, was es außer Rausschmiß mit Zeugnis und formalisierter Feier noch geben kann zum School-Out. Die therapeutische Beraterin sucht nach Ritualen. Sie nennt das Trauerbegleitung.

Trauer erleben die Menschen immer dann, wenn in ihrem Leben Übergänge stattfinden, sagt die Therapeutin. Da sind einerseits die unumstritten schmerzhaften Einschnitte wie Tod und Trennung, da sind andererseits die schleichenderen Wandlungen vom Jungsein zum Erwachsensein. „Diese Trauerprozesse brauchen Raum und Symbole“, sagt Christiane Schneider und bietet dazu Wochenendseminare an. „Trauerarbeit hingegen ist etwas anderes und dauert länger, die kann ich hier so kurz nicht leisten.“

Seit März '95 nennt die Bremer Trauerbegleiterin das Haus, in dem sie lebt und arbeitet, „Chiara – Haus für Übergangskultur“. Übergangskultur soll alles erklären und ist eigentlich ein schreckliches Wort, das findet auch Frau Schneider. Chiara (ital. für Klara) dagegen ist in ihrem Sinn. Sie hat es seines Klanges wegen ausgewählt. Klang und Farben soll es auch in ihrem Haus geben. Drei monströse Gongschalen hängen in dem gelben Trauerraum: gelber Teppich, gelbe Sitzkissen.

„Hier soll ich trauern können?“ fragen viele, die genau zu diesem Zweck gekommen sind. Tatsächlich werde es zunächst bei einem Wochenendseminar bis Samstagabend ziemlich dunkel, sagt die Begleiterin und meint es metaphorisch. Bis dahin versuchen die Trauernden, Symbole für ihre Schmerzen zu finden. „Gefühle zeigen“, ermuntert Christiane Schneider. Das können Tränen sein, aber auch ein Bild, eine Tonfigur, ein „Tönen, Sprechen, Tanzen“. Das ist greifbarer und spürbarer, als wenn es nur im Kopf stattfindet, sagt die Begleiterin. Und: es muß in der Gruppe stattfinden. Denn nach dem Spüren kommt das Abschiednehmen. „Wir vermeiden doch jede Form von Ende, wir leben in einer Rundum-Airbag-Gesellschaft. Wenn ich allerdings öffentlich sage, daß ich jetzt das liebe, kleine, angepaßte Mädchen in mir verabschiede und mein Symbol entsprechend handhabe, also verbrenne, vergrabe, ins Wasser werfe – dann werde ich mich daran erinnern und vor allem habe ich Zeuginnen.“

Diese können und sollen einfach angerufen werden, wenn das Wochenende vorbei ist, sollen gefragt werden: Wie war das noch bei mir, hilf mir mal. Denn gerade der „sonnige“ Sonntag nach dem dunklen Samstag wird leicht vergessen. Er ist der Tag der Visionen, der Tag der Zukunft. „Für das Leben reicht aber so ein Wochenende nicht aus“, sagt Christiane Schneider. „Schmerzen werden wir immer haben, und dazu brauchen wir die Gemeinschaft.“ Gemeinsam Trauernde werden oft Freundinnen.

Die weibliche Form „Freundin“ ist hier quasi ein Muß, denn über 80 Prozent der Chiara-KlientInnen sind Frauen. Männer haben lange Wartezeiten, denn die Begleiterin nimmt keinen allein in die Gruppe („sonst sorgen die Frauen für ihn“). Frauen haben viel nachzuholen, ist Schneiders Erfahrung; die Seminarreihe „Der Weg zur Wildfrau“ ist ständig ausgebucht. Mit den Frauen entwickelt Christiane Schneider dann auch ihre neuen Ideen. Das geplante Mädchenseminar zum „Erleben der ersten Mens“ (-truation, d.Red.) ist eine davon. Anmeldungen gibt es dafür bislang keine (siehe oben). Aber auch der Gedanke, Menschen in Arbeitskrisen über ihre Angst vor der Arbeitslosigkeit trauern zu lassen, hat noch kaum Feedback bekommen.

„Wir sind mit dem Thema immer noch am Anfang“, sagt Christiane Schneider dazu. Der Austausch mit den KollegInnen in ganz Deutschland bestätigt ihr das. Einzig die Kollegin im Ruhrgebiet kann sich über viel Zulauf freuen. Im Februar gründeten Deutschlands TrauerbegleiterInnen den Verein „TAU“ (für Trauer-Abschied-Umwandlung). Sie sind ein Jahr lang an der Akademie für menschliche Begleitung (AMB) ausgebildet worden. Wissenschaftlicher Leiter ist dort der „Trauerforscher“ Jorgos Canacakis, der mit der sogenannten Myroagogik, der Lehre vom Trauern und Klagen, arbeitet.

Auch Christiane Schneider bezeichnet Canacakis als ihr zentrales berufliches Vorbild, sagt sofort: „Ich habe nicht studiert“ und erzählt weiterhin von therapeutischen Ausbildungen in Gestalttherapie und Focusing in Deutschland und der Schweiz. Ein „Trauer-Netzwerk“ in Bremen schwebt ihr vor. Erste Kontakte zu Pflegedienstleitungen in Krankenhäusern, zu BestatterInnen und Behinderteneinrichtungen hat sie bereits geknüpft. Fortbildungen für ÄrztInnen, TelefonseelsorgerInnen, SterbebegleiterInnen hat Frau Schneider im Kopf. „Ich muß nur selbst einsehen, daß dies alles Zeit braucht. Es soll ja kein Strohfeuer sein.“ Im September fand im Ruhrgebiet eine erste internationale Trauerkonferenz statt. Silvia Plahl

„Chiara – Haus für Übergangskultur“ ist in der Friesenstraße 106,

Die angebotenen Seminare kosten von 180 Mark (ein Wochenende) bis zu 570 Mark (drei Wochenenden). Info dortselbst. Anmeldung ist erforderlich..