Land am Rand der Erdscheibe

A Coruña, wie die Galicier sagen, ist eine gläsern-mondäne Mogelpackung. Mit dem Regionalismus kam auch „Rock Bravu“ aus den Schweineställen der Stadt und der Dörfer  ■ Von Gerd Schumann

Nein, Irland habe ich vom äußersten nordwestlichen Zipfel der Iberischen Halbinsel aus nicht gesehen – obwohl... Von Breogan, dem sagenhaften Häuptling der Kelten, heißt es, er habe die Insel entdeckt: Blick von der Spitze eines riesigen Turms aus in Richtung Norden, vom „Cabo Fisterra“, dem galicischen „Ende des Landes“, über den Rand der Erdscheibe hinaus...

Auf Breogans Spur steige ich hoch zum „Torre de Hercules“, A Coruñas Wahrzeichen, ältester noch intakter Leuchtturm der Welt. Es ist frühmorgens, ein kalter Nebel liegt auf der Küste. Keine Menschenseele unterwegs. Von unterhalb dringt Klopfen durch den Dunst. Ich folge den Geräuschen, sehe kaum etwas, bis sich plötzlich schemenhaft sonderbare Konturen andeuten. An, zwischen und auf den Klippen rostet ein monumentaler Schrotthaufen vor sich hin, aus dem vor fünf Jahren achtzigtausend Tonnen Rohöl flossen, brennender Teppich, Fischsterben, Fangverbot, zerstörte Mikroorganismen. Das Todesschiff „Aegean Sea“ wurde zum monströsen Denkmal, aus dessen hohlem Inneren heraus der Klabautermann mit dumpfem Klopfen vor Naturgewalten und menschlicher Arroganz warnt. Oder klopft eine andere mythische Gestalt, Druide, Fee oder Hexe, die durch tausend sagenhafte Geschichten geistern? Phantasie kennt in Galicien keine Grenzen.

Endstation Atlantik. Bis hierhin kamen vor zwei Jahrtausenden die Kelten. Von hier aus zogen viel später Hunderttausende über See und sorgten dafür, daß Buenos Aires noch immer als „größte Stadt Galiciens“ gilt, und „Gallego“ in Argentinien und Kuba zum Synonym für den spanischen Emigranten schlechthin wurde. „Traurig schauen sie zum Meer, die in fremden Landen ihr Brot suchen müssen“, schrieb Nationaldichterin Rosalia de Castro vor hundert Jahren.

Das war die Zeit, als auch Fidel Castros Vater die trügerische Idylle von Lancare verließ, ein abgelegenes Dorf, in dem es wie überall im Innern Galiciens Land und damit Arbeit nur für den ersten Sohn zu erben gab. Und selbst die war hart und erbrachte nur das Nötigste zum Leben.

„Minifundien“ von ein bis zwei Hektar Durchschnittsgröße dominieren bis heute die Landwirtschaft. Da sorgt sich jeder um seine eigene kleine Welt, läßt sich nicht in die Karten schauen. Also gehöre zu den Charaktereigenschaften „des“ Galiciers, so wird gesagt, daß er Fragen grundsätzlich mit Gegenfragen beantworte. Wenn er sich auf einer Treppe befinde, sei ihm nicht anzusehen, ob er auf dem Weg nach oben oder unten ist. Niemand soll wissen, was hinter der Fassade steckt.

A Coruñas Fassade ist aus Glas. „Kristallstadt“, blitzende Galerien in blendendweißen Holzrahmen, Wintergärten über dem Uferboulevard, Schutz gegen rauh-salzige Meeresstürme. Hinter all dem Glas befinden sich nicht, wie vermutet, Salons mit Blick auf die Weiten der See – nur Küchen und Abstellkammern, gläsern-mondäne Mogelpackung. Da macht zwar das Kochen doppelt Spaß, doch die Wohnseite liegt nach hinten raus, zur kopfsteingepflasterten quadratischen Plaza, benannt nach der Fleischersfrau Maria Pita, die 1589 den Widerstand gegen Drakes großbritische Piratenflotte organisierte. Heute landen die Deutschen, wie unschwer an den Namen ihrer Kriegsschiffe ablesbar: „Tiger“, „Luchs“, „Fuchs“, „Jaguar“, „Löwe“, „Wolf“ und „Panther“. Wildkatzen rauschen durch die Nacht...

Die schrillen Schreie dazu liefern Möwen von beängstigender Größe, die einige parkende Kleinwagen zukacken, während auf der „Plaza de Maria Pita“ Parademarsch gegeben wird. Und die Musi spielt dazu einige schwungvolle Militärmärsche mit Dudelsackbegleitung.

„Nein“, sagt Bieito Romero, „daß da die Gaita gespielt wird, wußte ich nicht.“ Er selbst halte nichts vom Militär und also ebensowenig von der Gleichberechtigung der Dudelsäcke gegenüber den Trommeln und Trompeten, Pauken und Posaunen. Dabei bläst der 31jährige selbst die galicische Gaita, einer von Abertausenden, die ihre Nachbarn und andere Mitmenschen mit eigenartig grellen Tönen beglücken – mehr oder weniger.

Hörproben der Gaita-Renaissance bieten Bieito und Freunde allabendlich im Altstadt-Pub „Cova Folk“, in dem Cidre und Guinness fließen und galicische Verwandtschaftsbande zur Bretagne, Irland, Schottland, Wales signalisieren – ursprünglich keltisch besiedelte Gebiete, in denen ebenfalls bis zum bitteren Ende geblasen wird: „Der blau gekleidete Dudelsackspieler wischte sich erschöpft mit einem Seidentuch über die schweißnasse Stirn und ließ die Luft aus dem Sack entweichen, so daß die Pfeife, welche die Melodie angibt, auf die roten Quasten der Baßpfeife fiel“ (Emilia Pardo Bazán, 1886).

A Coruñas Kneipe-an-Kneipe- Altstadt hat es auch sonst in sich. Beim Cova Folk um die Ecke in der Taverne La Bombilla, der „Glühbirne“, geht es zwar etwas ruhiger zu, doch dafür locken unwiderstehlich Tapas, Pinchos, Bocadillos, serviert auf einem Silbertablett, billig und gut, Leckereien nach Art dieses Landes zwischen Meer und Stein. Pulpo gehört dazu, fritiert oder in eigener Tinte, die scharfe Pfefferwurst Chorizo natürlich, mit Fisch oder Fleisch oder Gemüse gefüllte „Empanadas“, gepökelte Schweinehaxen, Zorza, und der beste Schinken, weil getrocknet: Jamón serrano. Dazu ein Porzellantäßchen Weißwein – Ribeiro oder Albarin – oder eine Caña Bier: Estrella Galicia. Der Wirt erzählt dazu, daß er einige Jahre in Frankfurt als Maurer gearbeitet hat – erste Gastarbeiter- Generation in der BRD, einer von Zehntausenden Migranten, die keine Arbeit hatten damals zu Francos Zeiten.

Das war, als José Manuel Fernández noch für den Diktator tanzte und angeblich nichts von „Problemen“ bemerkte. Der sehnig-hagere Endvierziger leitet die noch unter dem Faschismus gegründete Volkstanzgruppe „Aturuxu“, für die es damals „nie Schwierigkeiten“ gab, „weil wir uns der Folklore verschrieben hatten“, und da sei es schließlich egal, ob der Caudillo zuschaue oder nicht. Sagt Fernández, Traumtänzer und Verdrängungskünstler ohne Erinnerung an „die Zeit der Zensur und der Bigotterie, der Falange-Uniformen, der Todesurteile und Exekutionen, der Messen der Blauen Division, der verbannten Schriftsteller, der verbitterten Abkapselung jener, die auf der Verliererseite gekämpft hatten“ (Cees Nooteboom).

Der im galicischen Ferrol geborene Diktator ist längst tot, „Aturuxu“ tanzt mittlerweile für die Soldatinnen und Soldaten auf der „Plaza de Maria Pita“, und Fernández merkt immer noch nicht, daß er permanent jenes „Hinterwäldlerische“ Galiciens reproduziert, das der ganzen Region angedichtet wurde. Früher galten Galicier als anpassungsfähig und konservativ. Heute wählen sie Manuel Fraga zum Präsidenten des Landes, einen ehemaligen Franco-Minister und Gründer von Spaniens Regierungspartei PP. Vom Nationaldichter Alfonso Daniel Castelao, der 1936 die Autonomie-Verfassung Galiciens für die Volksfront- Republik ausarbeitete, stammt die böse Charakterisierung, nach der seine Landsleute selbst dann noch behaupten würden, es regne, wenn in Wirklichkeit auf sie gepinkelt wird.

Die spanische Diktatur ließ den Kulturen der Galicier, Basken und Katalanen kaum Spielraum und forderte auf Plakaten: „Sprechen Sie unsere offizielle Sprache, das Kastilisch. Seien Sie kein Barbar. Arriba España.“ Heute gibt es in Galicien 80 Prozent Barbaren, und es werden immer mehr. Auch Mario López Rico gehört dazu und darf deswegen nicht ausgehen: Der 47jährige sitzt zwei Tage Hausarrest ab, weil er sich als Gärtner betätigte. Gemeinsam mit einem Freund entfernte er das rosige „L“ aus dem „La Coruña“-Schriftzug im zentralen Blumenbeet am Hafen und brachte es freundlicherweise sogar der Polizei vorbei: „Auf galicisch heißt die Stadt eben A Coruña, und Galicisch ist neben Kastilisch offizielle Landessprache.“ Kostete ihn und seinen Kumpel jeweils 5.000 Peseten und Hausarrest, das L.

Draußen knallt die Sonne. Während sich Frau und Töchterchen an den Strand verabschieden, schmort López zu Haus, vierter Stock, Wohnblock B, Klingel Hinterhof. Er gehört zum Vorstand des „Bloque Nacionalista Galego“ (BNG), der jüngst nach aufsehenerregenden Wahlergebnissen mit zwei Abgeordneten ins Madrider Parlament einzog, drittstärkste Kraft Galiciens, Tendenz steigend. Seine Partei, sagt der graubärtige Mann mit dem schütteren Haar, sei ein Zusammenschluß aus Kommunisten und Sozialisten. Es gebe einen „aktuellen und modernen Nationalismus“, der fordere das Selbstbestimmungsrecht und wolle statt des „Eurokapitalismus“ ein „Europa der Völker, auch der kleineren“. Regionale Fischerei, Schiffbau, Landwirtschaft seien bereits von der EG demoliert. „Da hält der BNG gegen.“ Er wachse weiter besonders bei Jüngeren, von denen laut Umfragen um 40 Prozent die Partei wählen würden – weniger auf dem Lande, mehr in den Städten.

Xurxo Souso wohnt im Stadtteil Monte Alto, wo die Jugendarbeitslosigkeit richtig hoch ist und viele Leute den Kriegsdienst verweigern. Der 29jährige lebt mit seinem Viertel, kennt sich aus, weiß noch, wie der schmuddelige Altfreak mitten zwischen Hochhäusern Schweine züchtete. Und als das letzte Viech endlich geschlachtet war, da seien junge Leute hin und hätten sich den Stall genommen, Heavy-Metal-Plakate aufgehängt und ihre Instrumente geholt. „Heute gibt es“, sagt Souso, „eine neue Musikrichtung namens Rock Bravu.“ Rock aus den Schweineställen der Städte und Dörfer also, und Souso meint, das Wort „Bravu“ bedeute „ungezähmt“, und so fühlen sie sich auch. Wie die irischen Commitments oder die Latinos in L.A. oder die schwarzen Rapper von New York – in Galicien allerdings ein Jahrzehnt oder so später. Wie immer.

Ich reise in den Süden Richtung Portugal, meinem ursprünglichen Ziel, das ich allerdings auf der Anreise in Monforte de Lemos haarscharf verpaßt hatte. Dort wurde der Zug in zwei Hälften gesplittet. Ich saß hinten, doch dummerweise rollte nur der vordere Teil ins portugalnahe Vigo. Nun lande ich mit einiger Verspätung und netten „A Coruña“- Geschichten im „Café Lyceum“ von O Porrino, einem über Region und Grenze hinaus bekannten Künstlertreff. Hier sitzen freundliche Leute, Maler, Musiker, Bildhauer, an blankgewienerten Tischen aus Marmor – der Steinbruch liegt fünf Kilometer weiter – und erzählen Geschichten aus der Geschichte, als es zwischen Galicien und Portugal noch keine Grenze gab. Und von „Morina“, einem Gefühl der Emigranten, das mit „sentimentalem Heimweh“ nur unzureichend übersetzt ist.

Die Musiker Paz Anton und Anton Rodriguez erinnern sich an 1974. José Afonso sang „GrÛndola“ im Radio, Signal für den Aufstand, die portugiesische „Nelkenrevolution“ stürzte den Diktator Caetano. Selbst im Galicien unter Franco endete kein Fest mehr ohne „GrÛndola“-Gesang – illegal, versteht sich. Das nahe Portugal strahlte aus.

Ist lange her. Die großen Spiegel hinter der Theke des „Café Lyceum“ haben schon so viel gesehen, daß sie mittlerweile das ganze Café und alle seine Gäste nur verzerrt zeigen. In die Länge, in die Breite, ins Lächerliche, ins Traurige... Wer hineinblickt, sieht sich und den ganzen Rand der Erdscheibe in tausend Variationen, wie im Irrgarten-Glas.