Aus der Immigration

Louis Begleys Roman vom „Mann, der zu spät kam“, will ein Gesellschaftsdrama sein, das sich in Schuld und Sühne, Sünde und Erlösung verliert  ■ Von Rolf Spinnler

Ein Roman, der uns in die Welt der Reichen und Schönen führt: Schauplätze sind New York, Paris, Rio und Tokio, das Personal rekrutiert sich aus Neuengland-Patriziern und Angehörigen der französischen Großbourgeoisie; ergänzt durch Komparsen aus der Welt der internationalen Hochfinanz und pittoreske Gestalten aus dem Dienstbotenmilieu. Nur der Titelheld Ben, „der Mann, der zu spät kam“, paßt in keine dieser Kategorien. Ben ist ein sozialer Aufsteiger, ein jüdischer Immigrant mit einer „unaussprechlichen“ Kindheit im Polen der dreißiger und frühen vierziger Jahre, der im Nachkriegsamerika Karriere macht: Stipendium für Harvard, Militärdienst bei den Marines, Eintritt in eine angesehene Investmentbank an der Wallstreet, schließlich Heirat mit einer vermögenden jungen Witwe aus der Bostoner Oberschicht – so lauten die Stationen einer Laufbahn, die den Nobody aus der „Prähistorie der europäischen Kriegszeit oder der namenlosen High-School in Jersey City“ steil nach oben führen.

Louis Begleys Roman dementiert das Märchen von Verheißung und Erfüllung des amerikanischen Traums, das dem armen Schneiderlein am Ende die Prinzessin und ein Königreich beschert. Ben bleibt einer, der nie richtig dazugehört. Seine Biographie hat einen Sprung, den er nicht kitten kann. Eine jüdische Kindheit im besetzten Polen – wer die Geschichte kennt, kann sich ausmalen, wie die ausgesehen haben könnte.

Die Biographie als Kuriositätenkabinett

Doch Ben hat – so will es die unausgesprochene Logik der Immigration – seine Vergangenheit in der Alten Welt wie einen hinderlichen Ballast zurückgelassen, um in der Neuen Erfolg zu haben: „Das große Lager, in dem alle Scham und Verletzlichkeit seines Lebens aufbewahrt waren, sollte verriegelt sein: Ein privates Kuriositätenkabinett, dessen erniedrigte, verschmähte Laren und Penaten nur ein einziger Besucher anstarren würde – er selbst.“ Auch der Roman beläßt es bei vagen Andeutungen. Nur ein bedeutsames Detail erfährt man: Ben kann keine Kinder zeugen.

Für seine neue Umgebung erfindet und erarbeitet der Aufsteiger sich eine neue Biographie, mit allen Weihen des Ostküsten- Establishments. Diese „Neuerwerbungen und kunstvollen Fälschungen“ betreffen sowohl Fragen des Lebensstils als auch seine literarischen und intellektuellen Vorlieben. Doch der „Schnellkurs zum Erlernen guten Lebens“ hat eine paradoxe Wirkung: Wo den Neuengland-Sprößlingen die ererbte Kultur und Lebensart in Fleisch und Blut übergegangen sind, bleiben sie für den Neuankömmling Rolle und Kostüm. Er wird nie die Authentizität seiner autochthonen Altersgenossen erreichen, auch wenn er dafür souveräner als sie mit den erworbenen Bildungselementen spielen kann.

So wird er erneut zum Außenseiter – und zum Snob: Ein Banker, der stets zu teuer und elegant gekleidet ist; der Rilke, Proust und Montherlant zitiert; der seine Gefühle beim Reden hinter der Maske der Ironie verbirgt und politisch – anders als das liberale Establishment – keine Sympathien für die Vietnamkriegsgegner und die Flower-Power-Generation aufbringen kann. Fragt sich eigentlich nur, warum er nicht Schriftsteller geworden ist.

Schreibpaarungen, Männerfreundschaften

Der das fragt ist Jack, Bens bester Freund, der mit der halben Neuengland-Aristokratie verwandt ist. Jack hat als junger Mann einen kleinen, aber vielbeachteten Roman veröffentlicht und arbeitet jetzt als Wissenschaftsjournalist bei einer New Yorker Zeitschrift. Wie in seinem letzten Roman „Wie Max es sah“ hat Begley die Figur eines Erzählers vorgeschoben, der mit dem Romanhelden in einer „Männerfreundschaft“ verbunden ist. Jack rekonstruiert aus eigenen Erinnerungen und Bens nachgelassenen Papieren den Weg in die Katastrophe, auf die das Leben des Freundes zusteuert.

Bens „Zuspätkommen“ hat eine soziologische Dimension: Das Schicksal eines Spätankömmlings in einer Gesellschaft, in der die Prägungen der frühen Kindheit über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit entscheiden. Diese innere Haltlosigkeit führt zur Katastrophe, weil sie Auswirkungen auf seine privaten Bindungen und seine Liebesbeziehungen hat. Die Ehe mit der Lady aus Boston scheitert und wird geschieden.

Das bedeutet nicht, daß der erfolgreiche Banker künftig abstinent lebt. Im Gegenteil: Als er 1969 die Leitung der Pariser Niederlassung seiner Bank übernimmt, nutzt er die Möglichkeiten reichlich, die ihm die französische Hauptstadt zur „Sexualhygiene“ bietet (wie er sich Freund Jack gegenüber ausdrückt). Ben tröstet eine liebeshungrige Reedersgattin, hält sich aber sonst eher an junge Damen, die man in Romanen der Jahrhundertwende der Dienstbotensphäre zugerechnet hätte: eine Friseuse und eine Buchhändlerin sind darunter, skandinavische Au- pair-Mädchen und eine nymphomane Bankangestellte. Ähnlich wie in Begleys letztem Roman der Erzähler Max die Geständnisse des schwulen Architekten Charlie entgegennimmt, wird auch Jack, der Puritaner mit der „monogamen Upper-East-Side-Perspektive“, zum Vertrauten von Bens sexuellen Eskapaden.

Kritisch wird die Sache erst, als Ben Véronique kennenlernt, die Frau eines französischen Anwalts, der für Bens Bank arbeitet. Sie ist bereit, ihren Mann Ben zuliebe zu verlassen – doch er zögert, ob er sich noch einmal binden soll. Er läßt den „Augenblick der Entscheidung“ (wie Kierkegaard gesagt hätte) verstreichen, bis es „zu spät“ ist – und verfehlt damit (so sieht er selbst es jedenfalls) die letzte Chance, seinem Leben eine andere Wendung zu geben.

Schließlich kommt es zum dramatischen Finale. Als er im August 1971 in Genf als Schlichter einen Streit zwischen einem belgischen Konsortium und japanischen Stahlfirmen erfolgreich beigelegt hat, fühlt er deutlich den Kontrast zwischen seiner glanzvollen äußeren Position und seiner inneren Einsamkeit und Leere. Sein letzter Entschluß: Von einer Brücke über die Rhone springt er in den Tod.

Auf den ersten Blick ist Begleys Buch ein Gesellschaftsroman in der Tradition von Henry James, Edith Wharton und Marcel Proust. Von James und Wharton hat er das Motiv des Amerikaners in Paris übernommen; von Proust die Figur des jüdischen Snobs, der in die höchsten Kreise aufsteigt – wie schon für Charlie in „Wie Max es sah“, hat Prousts Swann auch für Ben Pate gestanden. Begley kennt das soziale Milieu, über das er schreibt, aus eigener Erfahrung: Der 1933 in Polen geborene Autor ist seit 1959 in den USA als Anwalt im Bereich der internationalen Wirtschaftsbeziehungen tätig. Wo Bestsellerautoren, die einen Thriller in der Sphäre der global players ansiedeln, erst mühsam recherchieren müssen, kann er auf jahrzehntelange intime Kenntnisse zurückgreifen. Dieser weite, erfahrungsgesättigte Horizont, der sich gerade in scheinbar beiläufigen Details der Milieuschilderung zeigt, verbindet sich – ganz ähnlich wie bei seinem Helden Ben – mit einer literarischen Bildung und Sprachkultur, wie sie in den Chefetagen der Banken und Konzerne bei der nachfolgenden Generation wohl kaum noch anzutreffen sind. Den Leser erwartet also eine elegante, geschliffene und doch nicht geschwätzige Prosa, die mit literarischen Anspielungen und französischen Einsprengseln gespickt ist und sich wohltuend von der Spracharmut der Computergeneration unterscheidet.

Offensives Beichten, aufopfernde Liebe

Doch leider – leider – will Begley mehr als nur einen Gesellschaftsroman schreiben. Auf einer zweiten Ebene erzählt sein Buch nämlich auch eine Geschichte von Schuld und Sühne, von Sünde und Erlösung – ein religiöses Drama also. Die Notizen aus seinem Nachlaß, die Ben Jack vermacht hat, sind aus dieser Perspektive eine Art Beichte, die er über seine sexuellen Exzesse (mit einer Vorliebe für Analverkehr) abgelegt hat – das De profundis eines Verdammten und „Verdorbenen“, der wie Ahasver Erlösung erst im Tode finden kann. Oder in der Liebe eine Frau, die sich wie die heilige Veronika – pardon: Véronique – für den Schmerzensmann aufopfert: „Sie war wie eine zum Verrücktwerden schöne Krankenschwester, deren leichte, geschickte Hände eine große Wunde so zart verbinden, daß der kranke Mann nur daran denkt, wie (...) liebevoll sie ist, und nicht einmal merkt, daß sie ihm den Schmerz genommen hat.“

Hier tut sich in Begleys Buch ein Riß auf zwischen dem mondänen Gesellschaftsroman und dem Roman einer „verzweifelten“ Seele – nicht unähnlich dem Riß in Bens Biographie, der den ironischen Gesellschaftslöwen in Paris von seiner – vielleicht religiösen – Kindheit in Polen trennt. Dieser Riß ist um so bedeutender, als er schon in „Wie Max es sah“ zu beobachten war. In beiden Büchern erzählt Begley eigentlich zwei Geschichten, die nicht zueinander passen wollen: eine in der Manier von Henry James und eine in der Manier von Dostojewski. Was soll der Leser eines Gesellschaftsromans denken, wenn er etwa auf folgendes Geständnis von Ben stößt: „Die Einsamkeit, die ihn nie loslasse, werde im Liebesakt zu Scham, weil Sterilität diesen Akt vergeblich und sündig wie das Tun Onans mache“?

Das Seelendrama selbst ist auf vage Andeutungen beschränkt und zu wenig ausgeführt, um den Leser zu überzeugen. Aber vielleicht will und kann Begley – wie Ben über seine Vergangenheit – nicht mehr davon sagen. Dann wäre der Gesellschaftsroman eine Art Maske, hinter der der Dichter sein wahres Gesicht und seine Verletzungen verbirgt. Solche Mystifikationen und Verschleierungsstrategien darf man dem Autor durchaus zutrauen. Denn der Roman endet selbst mit einer mystifizierenden Anspielung auf den hierzulande kaum bekannten Genfer Autor Pierre Jean Jouve und seinen Roman „Le Monde désert“ aus dem Jahr 1927, der zu Bens Lieblingslektüre avanciert. Jouves Held Jacques ist ein calvinistischer Pastorensohn, der sich zu Knaben hingezogen fühlt, aber an seinen Schuldgefühlen wegen dieser verbotenen Begierden zerbricht. Als ihm auch noch sein bester Freund Luc die schöne Russin Baladine ausspannt, mit der Jacques in einer Art platonischer Ehe zusammenlebt, springt er von einer Rhone- Brücke in den Tod. Ben, „der Mann, der zu spät kam“, wird ihm dorthin folgen.

Louis Begley: „Der Mann, der zu spät kam“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/M. 1996, 286 Seiten, 39,80 DM