Aus dem Leben gefegt

■ Mit „Reisen ins Leben“ ist Barbara Johr eine sorgfältig recherchierte Dokumentation KZ-Überlebender gelungen

„Ehre den Toten, den Überlebenden eher Mißtrauen.“ Eine bittere Erfahrung einer der Überlebenden aus der Gefangenschaft in deutschen Konzentrationslagern. Formuliert hat sie Ruth Klüger in ihrem Buch „Weiter leben – eine Jugend“, zitiert in dem soeben erschienenen Band „Reisen ins Leben – Weiterleben nach einer Kindheit in Auschwitz“ von Barbara Johr. So hieß auch der Dokumentarfilm von Thomas Mitscherlich (vgl. taz, 14.2.1996), der kürzlich in Bremen zu sehen war und derzeit durch die Republik tourt. Der Film setzt sich zusammen aus ausführlichen Interviews mit drei – exemplarisch ausgewählten – Überlebenden, die – eloquent und mit ungewöhnlich ungetrübter Erinnerung – Rückschau halten aufihr Leben vor, im und vor allem nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager, ergänzt durch wertvolle und zum Teil nie gezeigte Archivaufnahmen alliierter Kameraleute.

Barbara Johrs Buch ist weit mehr als ein Buch zum Film. Es enthält neben dem vollständigen Wortlaut des Drehbuchs sorgfältig recherchierte Beiträge über bislang noch zu wenig aufgearbeite Aspekte der Lagerbefreiung und des Schicksals der Displaced Persons (DPs), jener aus ihrem Lebenszusammenhang gerissenen Menschen, deren Heimat nach Kriegsende zerstört, jedenfalls aber unerreichbar war. Durch das NS-Regime für staatenlos erklärt, mußten die DPs um eine neue Nationalität kämpfen – mit entsprechenden Komplikationen.

Barbara Johr gibt Augenzeugenberichten amerikanischer GIs und Offiziere Raum, die schildern, wie sie sich auf ihrem Vormarsch den Lagern genähert haben. Meist zufällig, schreibt Barbara Johr, denn „die Lager gehörten weder politisch noch militärstrategisch zu einem Kriegsziel“. John Glustrom, US-Soldat der 333. Pioniereinheit, erinnert sich: „Mein erster Eindruck war dieser Geruch. Der Gestank lag über dem ganzen Platz, und da war ein Bündel sehr verwilderter, verlorener Individuen, die mitleiderregend an die Tür kamen in ihren verwahrlosten Uniformen, um zu sehen was wir taten und mit ihnen vorhatten.“

Filmisch dokumentiert hat die Schrecken des Krieges und der Lager vor allem das US Signal Corps, eine mit allen Vollmachten ausgestattete Einheit. Die Kameraleute hatten die Auflage: do not fake pictures – keine gefälschten oder gestellten Aufnahmen. Daran allerdings hatten sich die Kameraleute der Roten Armee versucht, als sie ausgemergelte, auf Pritschen liegende Überlebende filmten – Tage nach der Befreiung, wie Barbara Johr vermerkt. Struktur und Aufgaben der alliierten Kameraleute sowie Verwendung des gefilmten Materials – wissenschaftlich präzise, aber nichtsdestotrotz packend zu lesen, beschreibt Barbara Johr die priviligierte Stellung der Kameraleute, denen kein noch so ranghoher Offizier Anweisungen zu geben hatte.

Auch von der re-education, dem halbherzigen Demokratisierungsprozeß, dem die Deutschen durch die Alliierten unterzogen wurden, spricht die Autorin. Etwa von den Reaktionen des Nachkriegs-Kinopublikums auf die Bilder aus den befreiten Konzentrationslagern: Die Authentizität der Bilder wird nicht bestritten, doch der springende Punkt sei das Fehlen eines Gefühls der persönlichen Verantwortlichkeit. „Nach einem vielversprechenden Beginn mit annähernd 50 Prozent Besuch am ersten Tag ist die Besucherzahl fast auf Null gesunken“, notiert ein amerikanischer Film Control Officer 1946.

Bereichert wird „Reisen ins Leben“ von einem juristischen Exkurs zum Thema „Heimatlosigkeit – Staatenlosigkeit“ von Susanne Benöhr. Schließlich hat auch Regisseur Thomas Mitscherlich noch einen Essay beigesteuert: „Diese Bilder“. Für Mitscherlich sind sie „unerträglich. Aber ich lebe mit ihnen“. Und damit er mit ihnen leben kann, muß er sie künstelerisch-dokumentarisch verarbeiten, mit ihnen umgehen. Auch Mitscherlich zitiert Ruth Klüger: „Die Bilder sind fix“. Den Bildern des fabrikmäßigen Todes kann man nicht entrinnen, muß sich zu ihnen verhalten. Und Mitscherlich endet mit einem kühnen Vergleich, wenn er das Unbehagen, das die breite Masse der Deutschen in den 50er und 60er Jahren gegen moderne Kunst empfindet, als einen weiterhin tönenden Nachhall jenes Verdikts einstuft, das die Nazis wenig früher ausgegeben hatten: „entartete Kunst“.

Alexander Musik

Barbara Johr: „Reisen ins Leben – Weiterleben nach einer Kindheit in Auschwitz“. 239 Seiten, Abb. Donat Verlag 1996. 36 Mark.

Am Mittwoch abend läuft zum Thema Entstehung und Voraussetzungen des Faschismus im Kino 46 der russische Klassiker „Der gewöhnliche Faschismus“ von Michail Romm (20.30 Uhr).