: Katzelmachers Söhnchen
Zwischen Woyzeck und Elias Alder: Am Schauspielhaus Wien wurde „Der Schatten eines Fluges“ von Wolfgang Maria Bauer uraufgeführt ■ Von Uwe Mattheiß
Nach der Nacht, in der er verraten wurde, steigt Matthias Kneißl aus der Dachluke seines Verstecks und klettert auf einen maibaumähnlichen Pfahl. Von dort schaut er herab auf 96 königlich-bayerische Gendarmen, die ihn sogleich abknallen werden wie ein Stück Vieh, würden nicht die Regieanweisungen zwischen den einzelnen Schritten immer wieder „Stille“ gebieten, die sich bis zur letzten „Stille“ vor dem finalen Schuß steigert.
Der „Kneißl-Hias“ soll eine Art oberbayerischer Robin Hood gewesen sein, der um 1900 den reichen Leuten das Vieh stahl, die Mägde schändete und ein paar Gendarmen über den Haufen schoß. Selbst seiner Hinrichtung sei er in Todesverachtung scherzend entgegengegangen, so will es die Legende. Der 33jährige Autor und Schauspieler Wolfgang Maria Bauer will es so nicht. „Der Schatten eines Fluges“ spekuliert über die Abgründe, über denen Männer zu Helden werden oder besser: gemacht werden.
Hans Gratzer hat diesen Rückgriff auf Münchner Volkstümlichkeiten an seinem Schauspielhaus in Wien „exterritorial“ zur Uraufführung gebracht. Damit erfüllt das Haus einmal mehr seine Funktion als „Asyl“ für Autoren, an die sich der Staatstheaterbetrieb nicht oder noch nicht herantraut. Als eine der ganz wenigen österreichischen Bühnen zeigte das Schauspielhaus zu Lebzeiten ein Stück von Werner Schwab. Zu Zeiten wohlgemerkt, als etwa die Dramaturgie des Burgtheaters dem wichtigsten österreichischen Dramatiker der vergangenen Jahre noch Mangel an Qualität attestierte. Mit der Uraufführung von „Dysmorphomanie“ in einer Inszenierung von Christian Stückl will Gratzer den Wiener Geschmack als nächstes vorsichtig an den Soz-Artisten Vladimir Sorokin heranführen; für Anfang nächsten Jahres plant er selbst die deutschsprachige Erstaufführung von Tony Kushners „Illusion“.
Für Wolfgang Maria Bauer ist der Kneißl-Matthias (Josef Bilous) ein Büchsenheld, der eigentlich zum Jagen getragen werden muß, den nur die pure Existenznot dazu treibt. Die ordentlichen Leute haben sein Elternhaus ausgeräuchert, ist er doch nur Nachkomme von „Katzelmachern“, was sie ihm in der Stunde der Not nicht vergessen haben. Doch arme Leute wie er haben in der Poesie gelegentlich edle Seelen. Wenn diese in Aufruhr gerät, sprengt sie die engen Grenzen der Person, Wahnsinn entweicht oder Genie. Matthias Kneißl, der stumme Dulder, ist aus der Welt gefallen. Wolfgang Maria Bauer schreibt seine Passion und setzt ihn wohlkalkuliert vieldeutig zwischen Woyzeck und Elias Alder. In seinem Wähnen, Fürchten und Bangen ist der Held so komplex beladen, daß sich Legionen von Schauspielschülern ihre Vorsprechrollen daraus zimmern werden.
Dieser Ikarus ist nur Held in der Zeitung. Das einzig Wahrhaftige bleibt sein Sturz. Von zwei Gewehrsalven getroffen wird er lautlos auf den Dachboden heruntergleiten und lächelnd das Leben aushauchen, einen malerischen Theatertod sterben. Vielleicht wird er noch einmal an die Mathilde denken. Denn Mathilde Danner (Adelheid Bräu) hat ihn verraten, ihn, den Kneißl-Matthias, für den sie auf dem Steckbrief zuletzt tausend Goldmark geboten haben. Das ist Anno 1901 zuviel für eine Wäscherin in einem ungeschützten Arbeitsverhältnis.
Woran kann ein Mann eigentlich sonst noch in Würde sterben, außer am Verrat der Geliebten? „Richtige Männer“ scheitern sowieso nur am „Weib an sich“. Selbst in der totalen Entzauberung eines Helden kommt „Der Schatten eines Fluges“ nicht ohne misogyne Männermythen aus. Wenn schon sterben müssen, dann wie Jean-Paul Belmondo in „Außer Atem“ mit einem Hauch Verachtung für die „Schwachheit des Weibes“ auf den Lippen. Dabei wollte Mathilde immer nur nach Amerika, der alpenländischen Enge entfliehen, zunächst natürlich gemeinsam mit ihrem Matthias. Doch der hat, statt die Passage ins traute Glück aufzutreiben, nur ein Holzmodell ihres Schiffs zustandegebracht mit ihren Brüsten als Galionsfigur.
Hans Gratzer inszeniert Bauers Stück als grellbunten Bilderbogen. Intime kurze Szenen, von Philippe Arlaud betörend schön bis manieristisch ins Bild gesetzt, wechseln mit skurrilen musikalischen Zwischenspielen in einem atemberaubenden Tempo. „Der Schatten eines Fluges“ als quirlige Alpendodelsaga im szenischen Format eines Abreißkalenders.
Gratzers rhythmisch-musikalische Aufsplitterung der dramatischen Entwicklung mag bei Werner Schwabs Gewalt-Kunst-Sprache funktionieren. Auf Wolfgang Maria Bauers ätherische Hörstücke angewendet, bleiben die schönen Bilder nur Hülle. Gratzer gelingt einmal mehr die Quadratur des Kreises. Ein avanciertes dramaturgisches Konzept und ein betulicher Ästhetizismus auf der Bühne müssen keine Gegensätze sein.
Nach der kontroversen Uraufführung von Bauers „In den Augen eines Fremden“ unter der Regie von Leander Haußmann 1994 hat sich Bauer für weitere Projekte vor der Dramatikerverachtung deutscher Staatstheater an Gratzers Autorentheater geflüchtet. Es bleibt offen, was einen Autor mehr vernichtet: die Verhunzungen von Leander Haußmann oder die Werktreue im Schauspielhaus.
„Der Schatten eines Fluges“ von Wolfgang Maria Bauer. Regie: Hans Gratzer; Bühne: Philippe Arlaud. Schauspielhaus Wien, bis 2. November, Di bis Sa, 20 Uhr
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