Das Jerusalem im Ferghana-Tal

Im usbekischen Schah-e Mardan versucht die Bevölkerung, mit beiden Teilen ihres Erbes zurechtzukommen: Pilgerstätten des Islam und der Sowjets existieren friedlich nebeneinander  ■ Aus Schah-e Mardan Thomas Ruttig

Hier war das Herz des Banditenlandes: im Ferghana-Tal. Unwegsame, über 5.000 Meter hohe Berge, reißende und eiskalte Flüsse, die von den Gletschern der Pamir-Ausläufer strömen, abgelegene Weiler – bestes Gelände für eine Guerilla. Bis in den Zweiten Weltkrieg hinein kämpften sowjetische Truppen hier gegen letzte Gruppen tadschikischer, usbekischer und kirgisischer Widerstandskämpfer. Mit dem türkischen Wort für Räuber nannten die sowjetischen Soldaten ihre Gegner Basmatschen. Und mitten im Banditenland errichteten die Sowjets denn auch das Denkmal für ihre Soldaten, die im Kampf gegen die Basmatschen gefallen waren: Bis heute steht es in Schah-e Mardan, einer von kirgisischem Gebiet umgebenen Exklave Usbekistans. Wie zum Hohn recken monumentale Heldengestalten aus Bronze ihre Fäuste und Kalaschnikows in Richtung Berge.

Die Sowjets hatten den Ort bewußt gewählt. Denn Schah-e Mardan ist neben der heute kasachischen Stadt Turkestan die wichtigste islamische Pilgerstätte der mittelasiatischen GUS-Republiken. Keine dreißig Meter von der Heldenplastik entfernt steht auf einem Hügel das Grabmal Alis, des Schwiegersohns des Propheten Muhammad und Begründers der schiitischen Richtung des Islam, benannt nach der „Schia Ali“ (Partei Alis). Der eher unscheinbare Ziegelbau mit der schön geschnitzten Holztür ist eines von sieben Mausoleen weltweit, von denen die Einheimischen jeweils behaupten, hier und nur hier sei der vierte Kalif begraben. Der Anziehungskraft des Schreins von Schah-e Mardan konnte dieser Streit nie etwas anhaben.

1951, während einer der „atheistischen Kampagnen“ noch unter Stalin, wurde er deshalb zerstört. Die kostbare Tür aus Walnußholz jedoch brachte ein gläubiger Muslim gerade noch rechtzeitig in Sicherheit und versteckte sie. Erst nach Usbekistans Unabhängigkeit 1991 wurde das Bauwerk wieder aufgebaut. Die geistliche Verwaltung der Muslime hatte dafür Geld und Fotodokumente des zerstörten Schreins gesammelt. Jetzt ist das kleine Heiligtum fast fertig.

Schah-e Mardan, ein kleines Dorf, hat sich wieder zu einem Zentrum des Pilgertourismus entwickelt. Heute säumen aus Brettern gezimmerte Verkaufsstände die Straße, wo Obst, Getränke und Süßigkeiten feilgeboten werden, darunter aus Sesamkörnern und Erdnüssen gepreßte Waffeln, die schmecken wie andernorts die Müsliriegel. Vor buntgestrichenen Kulissen kann man mit prächtigen Pfauen Erinnerungsfotos machen lassen.

Schah-e-Mardan ist wieder ein Pilgerzentrum

Über dem reißenden Gebirgsfluß Schah-e-Mardan-Su wurde ein Teehaus errichtet, mit einer überdachten, nach den Seiten offenen Terrasse unter Trauerweiden. Auf den hier üblichen Sitzgestellen sitzen Kirgisen mit ihren weißen Fellmützen, schneiden frische Gurken und Knoblauch in eine Riesenschüssel voller Weichkäse, reißen Fetzen vom Fladenbrot zum Einstippen und laden ein zuzugreifen. Auch der Wodka fehlt nicht. Bald kreist eine Tasse, abwechselnd mit dem scharfen Zeug und grünem Tee gefüllt.

Nicht weit entfernt hocken faltengesichtige Kirgisinnen auf der Erde und verkaufen aus Gewürznelken und Glasperlen gefertigte Amulette. Auf die Frage, wogegen die hülfen, antwortet grinsend der Fahrer, der uns zum nahe gelegenen Bergsee Kok Qul bringt: „Gegen die Polizei“ – wenn man Alkohol getrunken hat, deutet er mit Gesten an.

Auf der anderen Straßenseite führt eine endlose, schnurgerade Treppe zu Schrein und Monument hinauf. Alle zehn Meter laden seitliche Sitznischen zum Verschnaufen ein. Sie werden ausgiebig genutzt: Der Blick auf die in allen Grüntönen leuchtende Flußoase ist paradiesisch, Vogelgezwitscher mischt sich mit dem in dieser Höhe leicht gedämpften Rauschen des Flusses. An der Mauer, die das Fundament des erhöht stehenden Schreins bildet, kauern nicht sehr streng verschleierte, nur von einem bunten Kopftuch bedeckte Frauen und beten, lauthals umschwärmt von spielenden Kindern. Jugendliche spazieren unter Bäumen.

Im Hintergrund ist ein zweistöckiges, ausladendes Gebäude zu sehen, einer Marzahner Plattenbauschule nicht unähnlich: das Hamza-Niazi-Museum. Der tadschikische Dichter hatte in seiner Heimatstadt Ferghana die Koranschule besucht und in der Türkei islamische Theologie studiert. Dort wandte er sich aber von der Religion ab und wurde ein begeistertes Mitglied der Kommunistischen Partei. In Ferghana gründete er die Theatertruppe „Aq Gul“, die „Weiße Blume“, die neben klassischen Stücken auch Propagandastücke inszenierte. 1928 schickte die Partei Hamza als „Agitator“ nach Schah-e Mardan. Dort sollte er die Kampagne gegen die Frauenverschleierung vorantreiben. Er gründete ein „Rotes Teehaus“ und die erste weltliche Schule, organisierte die Landverteilung an Kleinbauern und sorgte natürlich auch für das erste Lenin-Denkmal am Ort. Das alles kann man im Museum auf den Fotos sehen. Seine letzte Aktion, so lernt man, war eine Frauentagsfeier am 8. März 1929, auf der 23 Frauen den Schleier abgelegt haben sollen.

Das Denkmal für den Sowjet-Dichter steht noch

Das hat Hamza nicht überlebt: Auf dem Heimweg verschwand er. Erst Tage später fand man ihn tot in einer Felsspalte. „Reaktionäre Mullahs“ sollen die Tat angestiftet haben. Es gab sogar einen sowjetischen Film, in dem gezeigt wurde, wie Hamza angeblich zu Tode gesteinigt worden war. Doch über sein Ende kursieren genauso verschiedene Geschichten wie über den Tod des legendären türkischen Basmatschenführers Enver Pascha. Ein dem „Kommunisten“ Hamza wenig wohlgesonnener Einwohner Schah-e Mardans erzählt, der sei ein bekannter Weiberheld gewesen. Zwei Brüder hätten ihn auf offener Straße niedergestochen, weil er ihre Schwester „entehrt“ habe. In einer dritten Version hatte Hamza die Zerstörung des Ali-Schreins angekündigt. Als sich die wütenden Einwohner sammelten, sei er davongelaufen und mit einem hünenhaften blinden Bettler zusammengestoßen, der ihn erwürgt habe...

Wie auch immer er umkam – das Denkmal für Hamza, ein ausgehöhlter Baumstamm mit dem Relief seines Gesichts, steht noch immer auf halber Höhe des Hügels von Schah-e Mardan. Und das Grabmal für den Dichter und Aufklärer aus sowjetischer Zeit befindet sich auf der Kuppe des Hügels, nicht weit vom islamischen Schrein und dem Soldatendenkmal. Ihm zu Ehren hieß Schah-e Mardan zu Sowjetzeiten sogar Hamzabad, vorübergehend. Und auch das Museum ist weiter geöffnet, wenn auch schlecht besucht. Direktor Abdulwahid Hamzajew – nein, er sei kein Nachkomme des Dichters – sieht auch keinen Anlaß, warum das anders sein sollte. „Hamza war nicht gegen den Islam“, sagt er. Die Leute seien heutzutage nur gegen das Basmatschen-Denkmal. Pläne für dessen Abriß gebe es deshalb übrigens noch lange nicht.

Mit seinen drei so widersprüchlichen Heiligtümern ist Schah-e Mardan eine Art mittelasiatisches Klein-Jerusalem – allerdings ein friedliches. Bislang scheint die merkwürdige Koexistenz zu halten: Schah-e-Mardan ist selbst zu einem Denkmal der letzten 70 Jahre im „Land jenseits des Flusses“ Oxus bzw. Amu-Darya geworden, wie arabische Geographen das heutige Usbekistan einst genannt haben.