Von einem, der gern die Welt erklärt

Heute tritt US-Vize Al Gore zum TV-Duell an. Er will Clinton empfehlen – und sich selbst  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Er soll während des letzten Wahlkampfs im Flugzeug auf Tabletts durch den Gang geschliddert sein und mit Raubkatzenstimme „I feel good“ von James Brown gesungen haben. Er soll – so versichern seine Frau und seine Mitarbeiter – witzig und locker sein, solange man ihm kein Mikrophon vors Gesicht hält. Aber wehe, das Scheinwerferlicht geht an und Al Gore blickt in die Kamera. Dann erinnert er an einen spröden, unnahbaren, aber missionarischen Professor, der seinen sichtlich überforderten Zuhörern die Quantenphysik erklären will.

Wie sein Boß Bill Clinton kann Al Gore stundenlang aus dem Stegreif reden. Doch im Gegensatz zum Präsidenten liegt die Stärke seines Stellvertreters nicht in emotionalen Anekdoten oder Appellen, sondern im Philosophischen: Al Gore erklärt gern und oft die Welt, wie sie aus den Fugen geraten ist und wie man sie wieder zusammenbaut. Deren mächtigster Mann möchte er in vier Jahren werden. Schon jetzt hat der US- Vizepräsident enge Vertraute und zukünftige Wahlkampfstrategen in wichtige Positionen in und um das Weiße Haus manövriert – auch wenn der ehemalige Senator aus dem Bundesstaat Tennessee Kommentare zum Präsidentschaftsrennen im Jahr 2000 ablehnt. „Ich sehe meine derzeitige Position nicht als Vorbereitungsjob. Meine Aufgabe ist es, Bill Clinton dabei zu helfen, der bestmögliche Präsident zu sein.“ Und natürlich, ihm zur Wiederwahl zu verhelfen.

Gores Loyalität ist ehrlich. Die beiden Baby-Boomer und Südstaatler haben in den letzten vier Jahren eine Kollegialität und Kooperation entwickelt, wie sie in der US-Geschichte kein anderer Präsident mit seinem Vize aufweisen konnte. Dabei hat Gore sein Amt neu definiert: Den Job des unauffälligen Stellvertreters – oft nur ausgewählt, um parteiinterne Opposition gegen den Spitzenkandidaten zu befrieden – hat der 48jährige in den Posten des ersten und vielleicht wichtigsten Präsidentschaftsberaters mit eigenen Zuständigkeiten umgewandelt. Außenpolitisch zeichnet er maßgeblich für die US-Politik gegenüber Rußland mitverantwortlich. Seine „Arbeitskommission“ mit dem russischen Premierminister Wiktor Tschernomyrdin diente häufiger als wichtiger Kommunikationskanal in Krisenfällen. Innenpolitisch ist er zuständig für Bereiche wie Telekommunikation, Raumfahrtforschung, Ökologie und die Reform der Bundesverwaltung.

„Reinventing Government“ – die „Regierung neu erfinden“ – heißt dieses Projekt zur Straffung und Entbürokratisierung, mit dem Bill Clinton kurz nach Amtsantritt seinen Vizepräsidenten beauftragt hatte. Der entdeckte bürokratischen Wust ohne Ende – unter anderem die Vorschrift, wonach Aschenbecher in Büros der Bundesbehörden beim Herunterfallen in nicht mehr als 35 Stücke zerspringen dürfen. Dieses Problem ist durch die Anti-Raucher-Kampagne gelöst. Ob die Entbürokratisierung fortgeschritten ist – daran scheiden sich die Geister. Jedenfalls wurden unter Gore 240.000 Stellen in der Bundesverwaltung abgebaut – eine Straffung, die im anti-etatistischen Fieber der „Gingrich-Republikaner“ nach ihrem Sieg bei den Kongreßwahlen 1994 kaum gewürdigt wurde.

Wie Clinton gehört Gore zur neuen Generation „moderater Demokraten“ aus den Südstaaten, die das „linksliberale“ Image ihrer Partei der sechziger und siebziger Jahre durch eine Anpassung an die Werte der überwiegend weißen Mittelschicht verändert haben. Die Todesstrafe zu befürworten, gehört ebenso zu dieser neuen politischen Identität wie die Forderung nach einer Reform des Gesundheitswesens, einer kommunitaristisch-autoritären Sozialpolitik und staatlichen Hilfen im Schul- und Ausbildungswesen beim Übergang in das Zeitalter der Informationstechnologie. Außerhalb der USA schuf sich Gore allerdings eine ganz andere Reputation: die des Umweltschutzpolitikers und Autors eines Bestsellers über globale Ökologie. Daß ein „Öko“ Vizepräsident der USA werden würde, veranlaßte Umweltschützer 1992 zu Entzückungsschreien, die aber bald verstummten. Ökologie rutschte auf der Prioritätenliste der Clinton-Regierung schnell nach unten. Während radikalere Umweltorganisationen bei diesen Wahlen zur „Grünen Partei“ überlaufen, ließen sich traditionelle Lobbygruppen wie der „Sierra Club“ erst spät dazu bewegen, das Team Clinton/Gore zu unterstützen. Dabei half die wahlkampftaktisch klug inszenierte Entscheidung von Clinton und Gore, ein riesiges Canyon-Gebiet in Utah und Arizona gegen den massiven Widerstand von Ranchern und Bergbaukonzernen zum Nationalpark zu erklären. Ob er in den Augen seiner Fernsehgesellschaft präsidiales Kaliber hat, kann Al Gore heute bei der TV-Debatte der Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten beweisen.

In Jack Kemp hat er dabei einen Gegner, der mindestens solange reden kann wie er – und in kameragerechter Koketterie geübter ist. Daß sich beide im Jahr 2000 als Spitzenkandidaten ihrer Parteien wieder treffen, ist derzeit eine beliebte Spekulation in Washington. Nach Ansicht von Al Gore Senior, dem Vater des Vizepräsidenten, kann auch ein Jack Kemp nicht den Einzug seines Sohnes ins Weiße Haus verhindern. „Dafür haben wir ihn großgezogen.“