Leben in Hillaryland

Fürsorge bis zum Abwinken: Amerikas First Lady erweckt in ihrem jetzt auch bei uns erschienenen Buch „Eine Welt für Kinder“ die Pioniergesellschaft zu ganz neuem Leben. Big Sister is watching you!  ■ Von Mariam Niroumand

Im Internet gibt es, neben einer ganz ordentlichen „Hillary- Clinton-Homepage“, auch eine Seite, auf der man sich zwischen dreißig möglichen Frisuren der First Lady entscheiden kann: mädchenhaft, altbacken onduliert, französisch gerupft, professoral, seifenoperntauglich, gutnachbarschaftlich zurückgekämmt (kann helfend zupacken) oder repräsentativ. Während ihr das Changieren zwischen ganzen Identitätskontinenten bei den einen zu Popstatus verhilft, trägt es ihr den Haß der anderen ein: „Geborene Lügnerin“ hieß sie in einer wutschnaubenden Kolumne, mit der William Safire in der New York Times auf die ersten „Enthüllungen“ in Sachen Whitewater reagierte – einer Affäre, der noch immer die Ursünde fehlt.

Ganz im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin Barbara Bush setzt Hillary Clinton die Metaphernmaschinen in Gang: „Mrs. Jellyby“ hieß sie in einem Aufsatz des Harvard-Professors Henry Louis Gates nach einer Figur von Charles Dickens, die sich durch „teleskopische Philanthropie“ auszeichnet, das heißt, Gutes in Afrika tut, aber die moralischen Defizite der eigenen Umgebung nicht sieht. Andere wieder stellen sich, wie das Magazin Newsweek, das Leben in „Hillaryland“ folgendermaßen vor: „Mrs. Clintons direkte Umgebung ist eine Mischung aus Plüschecke und Boxring, wie eine Pyjamaparty im Mädchenflügel eines fortschrittlichen religiösen Colleges der fünfziger Jahre. Die First Lady liebt es, zu dekorieren und sich zu verkleiden, manchmal sogar ziemlich albern. Mit Jeans und Pferdeschwanz streift sie nach Feierabend durchs Weiße Haus und sagt fröhliche Dinge wie 'Okey-dokey, artichokey' – oder 'What's up, buttercup?' Sie kann nicht singen, und doch tut sie's gern.“

Die Präsidentengattin in „Independence Day“ bezahlt ihren Ehrgeiz mit dem Leben, nicht ohne zuvor noch durch die Katastrophe geläutert worden zu sein. In „Primary Colors“, dem sogenannten Schlüsselroman von Joe Klein über die Präsidentschaftskampagne 1992, ist sie ein etwas unheimliches political animal, das dem Ich- Erzähler eines Nachts, ohne ein Wort zu verlieren, großen sexuellen Hunger offenbart. Ein Ehemann hatte ihn nicht stillen können, über dessen wüste Eskapaden sie täglich aufs neue aus der Presse zu erfahren fürchtet. Die Clintons haben sich mehrmals öffentlich über ihren Modus vivendi in diesen Angelegenheiten äußern müssen.

Nun hat Hillary, um dem wilden Fabulieren ein Ende zu machen, versucht, an der Presse vorbei direkt zum Volk vorzudringen, indem sie – ein Buch schrieb. Aus dem amerikanischen Titel „It takes a village. And other lessons children can teach us“ wurde in der nun bei Hoffmann und Campe erschienenen deutschen Fassung „Eine Welt für Kinder“. Der Einband zeigt in beiden Fällen einerseits Wolkenkratzer und Flugzeuge, andererseits Kornfelder, bunte Drachen, Segelboote, Bäume. Hier spricht das Mädchen aus Suburbia, aufgewachsen im vornehmen Park Ridge, außerhalb von Chicago: „Während wir früher auf Treppen und Veranden mit Nachbarn ein Schwätzchen hielten, sehen wir uns nun in abgedunkelten Wohnzimmern Videos an. Anstatt über die Hauptstraße zu bummeln, verbringen wir Stunden in Autos und anonymen Einkaufszentren. Bürgerverbänden, Kirchengemeinden, Vereinen, Parteien oder auch nur Bowlingclubs treten wir nicht mehr in dem Maße wie früher bei.“

Die Hauptleidtragenden dieser Atomisierung sind, so Clinton, die Kinder, die zunehmend in dysfunktionalen Familien verwahrlosen. Also muß als erstes die Vorstellung von der klassischen Kleinfamilie fallen, ein Gedanke, mit dem sich wohl verschiedenste Lager anfreunden können: „There is no such thing as other peoples children“, sagt die Juristin, die schon auf ihrem Mädchencollege Wellesley begann, Entwicklungspsychologie zu studieren und seither stets in Kinderschutzorganisationen aktiv gewesen ist, nachdem sie in Chicago die Kinder spanischer Immigranten gehütet hatte.

Am Beispiel der Familie ihres Mannes, die ohne genuinen Vater und dafür mit Großeltern und einem saufenden Stiefvater auskommen mußte (seine Mutter Virginia hat alles in ihrer Autobiographie „Leading with My Heart“ aufgeschrieben), erläutert sie, wie die Gemeinde in solchen Fällen in der Gestalt von Tanten, Cousins oder Lehrern einsprang und kompensierte.

Bekanntermaßen haben die Clintons seit einiger Zeit auch Vertreter des amerikanischen Kommunitarismus in ihre Entourage geholt. In der Formel von dem „Dorf“, die Hillary Clinton für ihre Gemeinschaftsvorstellung bemüht, findet sich nicht nur eine wehe Erinnerung an die rauhen Tage der Pioniergemeinschaften, die sich auf ihrem Weg nach Westen keine zimperlichen Privatheiten leisten konnten. Man erkennt auch die kommunitaristische Kritik am Liberalismus bis in die Details wieder: Traditionen, Bindungen, Übersichtlichkeit, Fürsorge gehen in der großen weiten McWorld und ihrem monadisierenden Egoismus unter.

Was aber tun, fragt sie händeringend, wenn das Dorf nicht mehr funktioniert? „Heutzutage können alle Eltern wahrscheinlich nicht mehr so einfach auf Unterstützung durch die Großfamilie oder eine engverwobene Gemeinschaft zählen. Es gibt weniger Tante Belles, Großeltern und andere Verwandte in der Nähe, und viele trauen sich nicht recht, einen Nachbarn darum zu bitten, ihnen zur Hand zu gehen oder das Ohr zu leihen.“ Schnell wird klar, daß „Dorf“ eine Art Kosename für „Staat“ ist, und zwar einen, der nicht wartet, bis es zu spät ist, und der ein Nein nicht für eine akzeptable Antwort hält.

Noch vor dem Wochenbett (Genußmittelmißbrauch!) wird dieser Staat tätig, und erst recht, wenn das Baby dann da ist. „Healthy Start“ heißt eine Organisation, von der Hillary glaubt, sie hätte auch ihr und ihrer Tochter Chelsea eine Menge Unbill ersparen können („Chelsea nahm meine Milch zwar auf, aber weil ich sie ungeschickt hielt, atmete sie durch die Nase alles wieder aus!“). Während die Scheidung erschwert werden sollte, müsse den Behörden der Zugriff auf Familien, in denen Mißbrauch stattfindet, erleichtert werden. Von Amitai Etzioni, einem bekannten Kommunitaristen, greift sie die Idee von der Einführung eines Fachs „Charakterbildung“ auf, bei dem man lernt, „seine Wut zu zügeln, Rücksicht zu nehmen“. Clinton selbst hatte in Arkansas ein Programm mit dem irreführenden Titel „HIPPY“ (Home Instruction Program for Preschool Youngsters) eingeführt, in dem einmal pro Woche ein Mitarbeiter der Gemeinde jeweils einem Elternteil im Rollenspiel „vorführt, wie sie mit dem Kind arbeiten kann“.

Auf einer Zugfahrt durch das Amerika des frühen 20. Jahrhunderts hatte Max Weber zu seiner Religionssoziologie Eindrücke vom Nachleben der aus Europa geflohenen protestantischen Sekten gesammelt. Gewisse Passagen aus Clintons Buch lesen sich wie aus Webers Zettelkasten abgeschrieben: „Unsere Kirche hatte eine große und aktive Gemeinde. Sie war ein Zentrum für Predigt und Praxis des sozialen Evangeliums, das für unsere methodistische Tradition so wichtig ist. Unser spirituelles Leben als Familie war herzlich und unerschütterlich. Mit Gott sprachen, spazierten, aßen, lernten und stritten wir. Jede Nacht vor dem Schlafengehen knieten wir uns vor unsere Betten zum Gebet.“ Clintos Vater, dessen Namen, Rodham, sie nicht ablegte, bis die Wähler in Arkansas sie dazu zwangen, war Tuchhändler und strenger Methodist. Herzlich und wahrscheinlich vor allem ziemlich unerschütterlich.

Weber schreibt, daß die Sekten gerade in Momenten wirtschaftlicher Unsicherheit von eklatanter Bedeutung waren. Während man in eine Kirche hineingeboren wird („Gnadenanstalt“), mußte man sich die Aufnahme in eine Sekte erst durch innerweltliche Askese, Bewährung, Tugendhaftigkeit erwerben, und aus diesem Erwerb folgte die Kreditwürdigkeit. Nur Glaubensbrüdern war zu trauen. Die Methodisten waren in Klassen organisiert, deren Führer jedes einzelne Mitglied wöchentlich in seinem Haus besuchte, ihm eine Art Beichte abnahm und über seinen Lebenswandel Buch führte. Aus diesen Berichten wurde gegebenenfalls ein Empfehlungsschreiben verfaßt, falls das Mitglied einmal weiterziehen wollte. „Eine Welt für Kinder“ klingt sehr nach dieser Art von Gemütlichkeit. Fürsorge bis zum Abwinken. Ein engmaschiges Netzwerk von Freiwilligen, Clubs und Nachbarschaftshilfen – einer säkularisierten Form der Sekten – rankt sich, unter Oberaufsicht des Staates, um das moderne Individuum und hält es zu lebenslangem Lernen und sozialer Besserung an. Man wundert sich, daß eine Yale-Absolventin, ein ehemaliges Goldwater-Girl, die in einer republikanischen Wahlkampagne für weniger Staat gestritten hatte, und vor allem eine Frau, die ihr Privatleben mit einem demokratischen Präsidenten ständig gegen bigotte Einmischungsversuche zu verteidigen hat, so wenig Sehnsucht nach Anonymität verspürt. What's up, buttercup?

Hillary Rodham Clinton: „Eine Welt für Kinder“. Aus dem Amerikanischen von Klaus Pemsel. Hoffmann und Campe, Hamburg 1996, 318 Seiten, geb., 39,80DM