Libyen-Reise wird zur Überlebensfrage

Seit dem Treffen mit Gaddafi wächst die Kritik an dem türkischen Regierungschef Erbakan. Die Opposition fordert seinen Rücktritt. Die Tage der Koalition sind gezählt  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Hunderte Anhänger der islamistischen Wohlfahrtspartei schwenkten vor dem Flughafen in Ankara Parteifahnen und bejubelten den türkischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan, der von mehrtätigen Aufenthalten in Ägypten, Libyen und Nigeria zurückkehrte. Zu mitternächtlicher Stunde reagierte Erbakan mit einer Pressekonferenz auf die heftige Kritik an seinem Libyen-Besuch, während Außenministerin Tansu Çiller, kreidebleich, stumm den Worten Erbakans lauschte. Çiller war zuvor außerplanmäßig mit dem türkischen Generalstabschef Ismail Hakki Karadayi zusammengekommen.

Libyens starker Mann Muammar al-Gaddafi hatte am Wochende erklärt, daß ihm die Außenpolitik der Türkei „nicht gefällt“. Die Türkei sei kein souveräner Staat, sondern werde von USA und Nato gesteuert. Gaddafi hatte die Unterdrückung der Kurden in der Türkei kritisiert und sich für einen kurdischen Staat ausgesprochen.

Er werde die Kritik an dem Libyen-Besuch „wegpusten“, kündigte Erbakan vor seiner Ankunft in Ankara an. Auf der Pressekonferenz spielte er dann die Erniedrigung durch den libyschen Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi herunter. Gaddafi spreche immer „philosophische Worte“, und die Reise sei ein „großer Erfolg“. Durch Angriffe auf die westlichen Länder – Erbakan beschuldigte die USA, England, Frankreich und Belgien, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu unterstützten – versuchte er die harschen Worte Gaddafis zu relativieren. „Obwohl feststeht, daß die USA und die UN im Nordirak PKK-Militante unterstützen, fordert niemand den Abbruch der Beziehungen. Einige Kreise in der Türkei sind Sklaven des Westens und führen sich wie Löwen auf, wenn es um ein muslimisches Bruderland geht.“

Auch innenpolitisch steckt Erbakan in der Klemme. Eine Art Lynchstimmung gegen den islamistischen Ministerpräsident herrscht in den großen bürgerlichen Medien vor. Die nationalistisch eingefärbten Kommentatoren fordern den Kopf von Erbakan, während Gaddafi als „Wüstenschakal“ und „psychopathischer Beduine“ beschimpft wird. Der Chefkolumnist der großen Tageszeitung Hürriyet, Ertugrul Özkök, verglich die Libyen-Reise Erbakans mit dem parallelen Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Süleyman Demirel in Rom: „Der eine wird im Beduinenzelt verflucht, der andere im römischen Palast geehrt. Beide verdienen die Behandlung.“ Umfangreiche Berichte über den nigerianischen Militärdiktator Sani Abacha – den „Mörder und Dieb“, den „neuen afrikanischen Idi Amin“ – erschienen in der türkischen Presse, als Erbakan in Nigeria eintraf. Gottlob sei Erbakan zurückgekehrt, „ohne von den Menschenfressern des blutigen Diktators verspeist“ worden zu sein, kommentierte das Massenblatt Milliyet.

Oppositionsführer Mesut Yilmaz von der bürgerlich-konservativen Mutterlandspartei forderte unterdessen den Rücktritt Erbakans. Erbakan sei ein „Spinner“ sagte Yilmaz. Der stellvertretende Vorsitzende der Mutterlandspartei sprach davon, daß die Libyen- Reise ein „Dolchstoß in den Rücken des türkischen Staates und der Nation“ sei. Die sozialdemokratischen Parteien haben einen Mißtrauensantrag gegen die Regierung gestellt. Die Opposition hofft dabei auf Dissidenten in der Partei des Rechten Weges (DYP). Außenministerin Çiller, die den Weg für eine Koalition mit den Islamisten ebnete, wird in der Partei immer mehr zur Zielscheibe der Kritik. Obwohl vieles dafür spricht, daß mehrere Abgeordnete der DYP dem Mißtrauensantrag zustimmen werden, ist das Ergebnis offen. Doch selbst, wenn die Koalition die Libyen-Reise überlebt, ist der Anfang vom Ende des Erbakan-Çiller-Gespanns eingeleitet. Hinzu kommt, daß in der von Putschgerüchten zerütteten Politszene Ankaras die mächtigen Generäle die Ministerpräsidentschaft Erbakans nicht verdauen können.