Wie Bayern mit Kiffern kräftig Kohle macht

Seit die Richter sich weigern, Kleinkonsumenten abzustrafen, hilft sich der Freistaat selbst  ■ Aus München Clemens Heidel

Die Passanten im Münchner U-Bahnhof Universität starren ihn an wie einen Schwerverbrecher. Der junge Philosophiestudent möchte vor Scham am liebsten in den Boden versinken. Vor ihm zwei Polizisten, hinter ihm zwei, wird er quer über den Bahnsteig abgeführt. Bei einer Routinekontrolle hatten die Beamten im Portemonnaie des Studenten ein paar Marihuanablättchen gefunden.

Dabei hätte alles so schön sein können. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im März 1994, daß die Justiz von Strafverfolgung in Sachen Cannabis „grundsätzlich abzusehen“ hat, wenn „Cannabisprodukte nur in geringen Mengen und ausschließlich zum gelegentlichen Eigenverbrauch erworben oder besessen werden“, wähnten sich die deutschen Kiffer in Sicherheit.

Auch der damalige bayerische Justizminister Hermann Leeb definierte wenige Monate nach diesem Urteilsspruch die „geringe Menge“ für Bayern inoffiziell mit 6 Gramm. Eine sehr „geringe Menge“ im Vergleich zu anderen Ländern – in Schleswig-Holstein sind es 30 Gramm.

Doch der Schein trügt. Die bayerische Polizei setzt weiter auf Repression. Innenminister Günther Beckstein (CSU) forderte vergangenes Jahr seine Ordnungshüter sogar in der Presse auf, gegen Kiffer „rigoros vorzugehen“. So bringen die Staatsdiener auch heute jeden noch so kleinen Cannabisfund zur Anzeige, obwohl sie genau wissen, daß die Staatsanwälte die Verfahren gegen Kleinkonsumenten einstellen müssen.

Egal ob im Englischen Garten, in der U-Bahn oder in Szenekneipen: ein Großaufgebot an Zivilpolizisten macht immer noch Jagd auf die Jointraucher. Allein in München ist jeden Tag zusätzlich zur normalen Polizei ein 40 Mann starkes Einsatzkommando speziell auf der Suche nach Kiffern. Willkürliche Kontrollen auf offener Straße sind in ganz Bayern an der Tagesordnung. Jahr für Jahr zeigt der Freistaat Über 10.000 Menschen wegen Haschischdelikten an.

Warum? Seit die bayerischen Richter die Cannabiskonsumenten nicht mehr bestrafen dürfen, hilft sich der Freistaat selbst. Seine Vertreter drohen ganz einfach mit dem Entzug der Fahrerlaubnis. Verhindern kann der „Straftäter“ das nur, indem er sich einem Urintest und einer Fahreignungsprüfung unterzieht. Kostenpunkt: zwischen 800 und 1.500 Mark. Die Höhe der „Strafe“, wie viele Urintests, welcher „Idiotentest“ kann ein Beamter aus der Straßenverkehrsbehörde willkürlich festlegen. Vor Gericht wurden früher bei ähnlichen Mengen nur zwischen 150 und 300 Mark fällig.

Pech hatte auch der Philosophiestudent. Zwar stellte der Staatsanwalt einen Monat nach seiner Verhaftung das Verfahren wegen Geringfügigkeit ein – doch er hatte sich zu früh gefreut. Wenig später erhielt er Post von der Straßenverkehrsbehörde: Nach dem Willen des Gesetzgebers dürften nur solche Personen Kraftfahrzeuge führen, die die hierzu notwendigen „gesundheitlichen und charakterlichen Eignungsvoraussetzungen“ erfüllen, wurde er informiert. Und dann der Clou: „Es bestehen (...) erhebliche Zweifel, ob Sie noch in der Lage sind, Kraftfahrzeuge zu führen.“

Um die Zweifel zu beseitigen, mußte der Student zweimal im Abstand von je einem Monat zum Urintest und einmal zur Fahreignungsprüfung beim Technischen Überwachungsverein (TÜV). 1.270 Mark mußte er bezahlen, erst dann durfte er seinen Führerschein behalten.

„Absurd“ nennt der auf Drogendelikte spezialisierte Münchner Anwalt Anselm Thorbecke die Praxis der Straßenverkehrsbehörden. Diese Form der Bestrafung sei ganz einfach „Geldschneiderei“. Die bayerische TÜV-Lobby habe sich so eine neue Einnahmequelle verschafft. Ist der Urintest positiv, verliert der Täter seinen Führerschein. Egal ob er zehn Minuten oder drei Wochen vor einer Autofahrt den letzten Joint geraucht hat.

Der bayerische Innenminister Günther Beckstein, der Haschisch auch schon mal als „Tor zur Hölle“ bezeichnet hatte, rechtfertigt sein Vorgehen damit, daß die Fahrtüchtigkeit auch noch „Wochen nach dem Konsum“ erheblich eingeschränkt sei. Wissenschaftliche Belege hat er dafür allerdings nicht. „Nonsens“ nennt Dr. James O'Hanlon von der Ryjksuniversiteit Limburg diese Behauptung. Die niederländische Universität führte zwischen 1990 und 1993 mehrere Studien für das US-amerikanische Verkehrsministerium durch. Ein „richtig dicker Joint“ von einer Person alleine geraucht, entspreche nach der Studie ungefähr 0,7 Promille Alkohol im Blut. Spätestens nach drei bis vier Stunden sei die Fahrtüchtigkeit wieder ganz normal.

Das überraschendste Ergebnis brachte allerdings ein breitangelegter Praxistest: Haschischraucher und eine nüchterne Kontrollgruppe saßen unter den Augen der Wissenschaftler mehrere Stunden hinterm Steuer. Die Kiffer machten weniger Fehler.