Zeugen des Genozids

■ Friedensnobelpreisträger Robert Jay Lifton im Schauspielhaus

Die Erwartung am Sonntagmorgen war groß: Geladen in der Reihe Reden über Gewalt und Destruktivität war der Mediziner und Professor für Psychiatrie in New York, Robert Jay Lifton. Er ist Gründungs-mitglied der internationalen Vereinigung „Ärzte gegen den Atomkrieg“, die 1986 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Seine Themen: Wie werden Ärzte zu Mördern? Welche psychologischen Mechanismen erleben Zeugen? Und: Könnte uns eine „Spezies-Mentalität", durch die jeder sich als Teil der Menschheit begreift, im Zeitalter der atomaren Bedrohung vor Schlimmerem bewahren?

Natürlich war all dies innerhalb von eineinhalb Stunden nicht zu bereden. Lifton sprach atemlos, ließ den Zuhörern kaum Zeit zum Nachdenken, reihte Beispiele, Zitate, Gedichte und Anekdoten neben die sehr ernsten Kernaussagen.

Lifton blickt auf eine jahrelange Arbeit mit Opfern und Tätern der Katastrophen dieses Jahrhunderts zurück. Seine These: Menschen kreieren sich durch einen psychologischen Prozeß, den Lifton „doubling“ nennt (Verdoppelung), ein alter ego. Durch diesen Prozeß der Dissoziation waren die Täter von Auschwitz in der Lage, sich zwei Persönlichkeiten zu schaffen. Der Weg von der Sterilisation zum medizinischen Töten von Kindern und später Erwachsenen bis hin zum systematischen Völkermord in Auschwitz war geleitet von einer „biomedizinischen Vision“, die es ermöglichte, Politik und Biologie im eigenen Erleben zu trennen. Diese Vision und der Ablauf der ihr folgenden Taten – so Lifton – ist übertragbar auch auf andere Genozide unserer Zeit.

Nur am Rande erwähnt blieben kleine Vorfälle, die neugierig machten auf große Erkenntnisse: Daß etwa das Smithsonian Institute in den USA eine Ausstellung zum Thema Hiroshima zensierte. Lifton wird hierzu noch in diesem Jahr ein neues Buch herausbringen. Hiroshima in America: 50 years of denial (50 Jahre der Verleugnung), so der Titel der Studie über die Entscheidungsträger des Abwurfs der Atombombe über Hiroshima.

Gabriele Wittmann