Das Falsche tun mit dem richtigen Argument

■ Neuköllns Gesundheitsstadträtin Vogelsang (CDU) bleibt in dem Fall des hilflosen Gerd P. untätig. Ihr Argument: „Wir achten seine Bürgerrechte“

Die Neuköllner Gesundheitsstadträtin Stefanie Vogelsang (CDU) hält es für unmöglich, den nach ihren Worten „systematischen Niedergang“ des Gerd P. aufzuhalten. Der schwerstalkoholkranke und teilweise gelähmte 66jährige Mann lebt seit Jahren inmitten von stinkenden Madenklumpen und Fliegenschwärmen alleine in seiner Wohnung. Er verwahrlost zunehmend. (taz berichtete am 4.10.).

Den Neuköllner Behörden ist der Fall seit langem bekannt. Ende 1993 wurde Gerd P. Klient des Sozialpsychiatrischen Dienstes, seit einem halben Jahr wird Gerd P. von der Neuköllner Alkoholberatungsstelle betreut. Auf dem Papier. Denn sämtliche existentiellen Dinge sind bei Gerd P. nicht geregelt: Er wäscht und ernährt sich nicht und verläßt die Wohnung nach Auskunft der Nachbarn nur noch, um an der nächsten Ecke Schnaps zu kaufen.

In der Vergangenheit hatte er mehrfach in betrunkenem Zustand brennende Zigarettenkippen fallen lassen und Schwelbrände in seiner Wohnung verursacht. Sein baldiges Sterben scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.

Stadträtin Vogelsang hat nach eigenen Angaben den Fall nicht persönlich gesehen. Sie beurteilt ihn aber als nicht so dramatisch. „Es liegt hier kein Fall von Eigen- oder Fremdgefährdung vor. Das wären die einzigen gesetzlichen Kriterien, um solch einen Mann in die Irrenanstalt stecken zu können“, erklärt Stefanie Vogelsang. Und: „Wir freuen uns über diese Gesetze. Schließlich sind sie ein Schutz für Leute, die nicht unseren Sauberkeitsvorstellungen entsprechen. Wir wissen nicht, warum Menschen so sind. Nehmen Sie die Obdachlosen: Die Obdachlosenheime stehen zur Hälfte leer, und trotzdem schlafen Leute auf der Straße. Wer gibt uns das Recht, jedem Penner, der zugeschmuddelt ist, zu sagen: Wasch dich!“

Bei einem Besuch bei Gerd P. äußerte der verstört und wütend wirkende Mann den Wunsch, daß ihm jemand bei der Bewältigung des Alltags hilft. Allerdings will er auf keinen Fall aus seiner Wohnung in der Wissmanstraße heraus. Eine Heimunterbringung lehnt er vehement ab. „Wir werden Gerd P. sozialarbeiterisch betreuen und ihm Hilfe anbieten. Mehr können wir gegen seinen Willen aufgrund der gesetzlichen Lage nicht tun, und das ist gut so“, erklärt die CDU-Politikerin Stefanie Vogelsang. Gut für sie. Denn das Gesundheitsamt Neukölln rechtfertigt hier offenbar seine jahrelange Untätigkeit mit der Respektierung von P.s Bürgerrechten. Die junge Stadträtin hält Neukölln für einen Bezirk wie jeden anderen. Vergangene Woche hatte eine Mitarbeiterin der Alkoholberatungsstelle zugegeben, daß es in Neukölln Tausender solcher Fälle wie Gerd P. gebe. Daraufhin verpaßte Vogelsang ihren sämtlichen unterstehenden Behörden einen Maulkorb. Von deren Seite sind seitdem weder Auskünfte zu Gerd P. noch allgemeinere zur sozialen Lage in Neukölln zu erhalten.

Aber es gibt bekannte Fakten, um die die Stadträtin nicht herumkommt. Neukölln liegt mit über zehn Prozent und rund 33.000 Sozialhilfeempfängern über vier Prozent über dem Westberliner Durchschnitt. Die Arbeitslosenquote des Bezirks beträgt 18 Prozent. Der Sozialpsychiatrische Dienst (SpD) hat 19 Mitarbeiter. Damit liegt der bevölkerungsreichste Bezirk Berlins mit 320.000 Einwohnern ganz hinten in dem Verhältnis von SpD-Sozialarbeitern und Ärzten zur Einwohnerzahl. Vogelsang bestritt vehement, daß ihre Behörden aufgrund der sozialen Lage in dem Bezirk personell nicht in der Lage seien, Sozialfällen adäquat, also nicht nur mit Zwangsmaßnahmen, zu helfen. Nach ihrer Meinung werde in anderen Bezirken in derartigen Fällen nicht anders verfahren.

Aber vielleicht kommt nach der jahrelangen Untätigkeit der Behörden nun doch Bewegung in den schwierigen Sozialfall. Gestern wurde die Wohnung von Gerd P. im Auftrag des Gesundheitsamts von drei Männern mit Sauerstoffmaske entrümpelt.

Der Kammerjäger kann zwar nicht gegen das Ungeziefer in der Wohnung vorgehen, weil Gerd P. sich weigert, die Wohnung auch nur vorübergehend zu verlassen. Aber eine Pflegestation ist inzwischen beauftragt, dem Mann zu helfen. Tim Köhler