Der Käseglocke fehlt der Druck

■ "Modell Kreuzberg" als Vorbild für andere Bezirke? Selbst in Kreuzberg bleiben nach zwanzig Jahren behutsamer Stadterneuerung ungelöste Probleme.

Zu einer Bestandsaufnahme von zwanzig Jahren behutsamer Stadterneuerung hatte am Samstag der grüne Bezirksbürgermeister Franz Schulz ins Kulturkaufhaus KATO geladen. Von dem „Kreuzberger Modell“ mit intensiver Bürgerbeteiligung könne man nur lernen, war man sich unter den Diskussionsteilnehmern nahezu einig.

„Anders ist eine stadtverträgliche Sanierung nicht vorstellbar“, betonte auch der Bürgermeister. Dieses Fazit konnte nicht überraschen, denn viele der Anwesenden haben die Übertragbarkeit des „Modells Kreuzberg“ zur Profession gemacht. Etliche arbeiten heute beispielsweise im Sanierungsgebiet Prenzlauer Berg.

Dennoch entwickelte sich das Gespräch nicht zur reinen Selbstbeweihräucherung. „Durch die Sanierung wurden die sozialen Probleme nicht gelöst“, kritisierte Thomas Behrend, früher Mitarbeiter beim Stadtteilverein SO 36. Armut und Arbeitslosigkeit seien in Kreuzberg sogar noch gewachsen. Und im Ostteil der Stadt lägen trotz der Prinzipien der sozialen Stadterneuerung die Mieten nach der Sanierung so hoch, daß sie ohne Wohngeld und Härteausgleich für viele nicht bezahlbar wären. Selbst im Modellbezirk blieben Probleme der Wohnungsverwaltung ungelöst. Mit der anstehenden Aufhebung der Sanierungsgebiete sollen die Wohnungsbaugesellschaften einen Teil ihrer Häuser reprivatisieren. Durch spekulative Interessen der zukünftigen Eigentümer drohen neue Mietsteigerungen.

„Verkäufe an die Mieter haben Priorität“, betonte Günter Fuderholz, in der Senatsverwaltung für Bauen und Wohnen zuständig für die Stadtsanierung. Doch es ist absehbar, daß die Wohnungsbaugesellschaften vor allem unrentable Objekte an die Bewohner loswerden wollen. Und wie in Gebieten, in denen über 50 Prozent der Bewohner nicht von eigenem Einkommen leben können, Verkäufe an die Mieter finanziert werden sollen, bleibt unklar.

Gegen eine veraltete Kahlschlagsanierung hin zur autogerechten Stadt war unter der Käseglocke des Randbezirks Kreuzberg vor zwanzig Jahren ein breites Spektrum von Bürgerinitiativen gewachsen. Durch Druck von unten erreichten die Akteure politische Akzeptanz. Die reichlich vorhandenen öffentlichen Gelder ermöglichten eine Sanierung, die sich nicht mehr an abstrakten Maßstäben orientierte. Doch keine dieser drei Voraussetzungen ist heute noch gegeben.

Vor allem der massive Druck von unten fehlt, nicht nur in den neuen Sanierungsgebieten im Ostteil Berlins. Auch in Kreuzberg sind viele Initiativen eingeschlafen. Teils weil ihnen die öffentliche Förderung gestrichen wurde, teils weil schlicht die Basis fehlt. „Ohne die Hausbesetzungen hätte sich die Politik nie geändert“, meinte der ehemalige Kreuzberger Baustadtrat Werner Orlowsky.

Heute seien viele frustriert, da an der Basis entwickelte Konzepte von den politisch Verantwortlichen ignoriert würden. Um so wichtiger sei trotz leerer Kassen die weitere Unterstützung von Kiezinitiativen und Betroffenenvertretungen, um eine Mitwirkung überhaupt zu ermöglichen. „Wenn die Leute das dann aber nicht wollen“, weiß Orlowsky, „ist Hopfen und Malz verloren.“

Doch die öffentlich subventionierten Initiativen können den Druck der Bevölkerung auch kanalisieren, wo keine bestehenden politischen Strukturen zum Einsturz gebracht werden, meinte Rainer Wild vom Berliner Mieterverein. Daher sei das Modell schon auf Schöneberg oder Wedding nicht übertragbar gewesen. Gerade wegen der Erfolge in Kreuzberg liefe die Stadtsanierung heute weitgehend geräuschlos ab, bestätigte freudig Senatsvertreter Fuderholz.

Die Frage aus dem Publikum: „Wie können wir denn noch protestieren, Herr Bürgermeister?“, war nahezu symptomatisch für die Lage. Und neue Initiativen von unten, die die Lücke zwischen Berufsbetroffenen und Bürgerwille füllen und neue Lösungsansätze bringen könnten, wachsen erst langsam nach.

So gründete der Kinderzirkus Kabuwazi, durch Streichung öffentlicher Zuschüsse existenzbedroht, einen projekteübergreifenden Förderverein. Erste Sponsoren konnten gewonnen werden, ein Stiftungsmodell wird erarbeitet. Das Motto der Initiative hätte vor zwanzig Jahren kaum anders lauten können: „Wir fangen da an, wo andere kapitulieren.“ Gereon Asmuth