■ Justiz und Politik könnten dem Stimmungswandel in Sachen Sexualität energischer nachkommen, als uns lieb ist
: Ein trauriger Sieg

Der Widerstand der Hertener Bürger gegen den Bau einer forensischen Abteilung vor ihren Haustüren konfrontiert unsereinen mit zwei Herzensanliegen, die hier unversöhnlich kollidieren. Einerseits wollen wir die Integration der sogenannten Sexualstraftäter, um die es bei den Protesten in Herten hauptsächlich geht. Neunzig forensische Patienten sollen aus der überlasteten Klinik im Nachbarort Eickelborn ausgelagert werden und die Bürgerinitiative erinnert – mit Slogans wie „kinderfreundlich oder killerfreundlich“ oder Scheiterhaufen auf dem Baugelände – warnend daran, daß in deren Umgebung bereits zwei Mädchen von Freigängern mißhandelt und ermordet worden waren.

Andererseits – so könnte man im Geist der Anti-AKW-Bewegung sagen – handelt es sich hier um eine lokale Initiative, die sich gegen die administrative Willkür der nordrheinwestfälischen Behörden wendet. Außerdem, und das ist entscheidend, geht es dieser Bürgerinitiative um den Schutz von Kindern, und speziell um den Schutz von Mädchen.

Nun kann man zu verschiedenen Deutungen kommen. Vor Hysterie und Mobjustiz zu warnen und durch Verweis auf die – in der Tat wenig bedrohlichen – Statistiken zum Thema Sexualstraftaten zu beruhigen, ist in der momentanen Stimmung zwar keineswegs überflüssig, aber wahrscheinlich eine zu dürre Strategie. Den aufgebrachten Eltern aus Herten ist es wohl ziemlich egal, daß die Rückfallquote bei therapierten Tätern nach Einschätzung des Hamburger Psychiaters Norbert Leygraf um 25 Prozent niedriger liegt als bei denen im bloßen Strafvollzug. Statt vor der Vox populi in die Knie zu gehen und – wie demnächst in Kalifornien – Kastration und Nachbarschaftsmeldepflicht von Sexualstraftätern oder Schlimmeres einzuführen, muß man deshalb bessere Werbung für die Welt jenseits der Angstmauer machen.

War Sex in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren noch Mittel, wenn nicht Zweck eines großen Befreiungsschlags, so setzt sich seit den achtziger Jahren immer mehr die gegenteilige Ansicht durch. Gerade Sex führt in Gewalt und Unterdrückungsverhältnisse. Die Metapher Vergewaltigung, so die Autorin Ann Snitow, hat die sexualpolitischen Einschätzungen unseres Jahrhunderts geprägt wie die Prostitution die des vergangenen. Den zunächst wie eine Verhöhnung der Opfer wirkenden Ausdruck „Metapher“ benutzt die Autorin, weil der Gewaltbegriff schrittweise „entmaterialisiert“, von konkreten Tatbeständen wie einer tatsächlichen Vergewaltigung befreit und globalisiert wird. Michel Foucaults Vorstellung von einem „Dispositiv der Macht“ haben sich viele feministische Theoretikerinnen dahingehend anverwandelt, daß schon nicht mehr so wichtig ist, was genau passierte. Die Struktur entscheidet. „Die sexuelle Macht der Männer“, so schreibt Andrea Dworkin, „ist die Grundsubstanz der Kultur. Alle Macht geht vom Penis aus.“ In der ZDF-Sendung mit dem aufrüttelnden Titel „Wer schützt unsere Kinder“ wurde letzte Woche auch ein Opfer vorgestellt, nur mit ihrem Vornamen, Scarlett, die nur „mein Stiefvater“ zu sagen brauchte. Den Rest wollte und sollte man nicht genauer erfahren. „Hast du gezittert“, „Konntest du weinen“, waren die Fragen, die ihr die Moderatorin bestenfalls noch hinhauchte.

Ein Kontinuum entsteht, das übergangslos vom Exhibitionismus bis zum Mord reicht. Eine Lesart, die sich übrigens sogar im Strafgesetzbuch findet, dessen entsprechender Abschnitt zum Thema Sexualdelinquenz von „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ über „sexuelle Gewalttaten“ oder „Ausbeutungshandlungen in Abhängigkeitsverhältnissen“ bis hin zum Mord reicht.

Längst kommen Justiz und Politik dem Stimmungswandel nach. Erste Entwürfe zur Verschärfung des Sexualstrafrechts liegen in den Aktenmappen, obwohl völlig klar ist, daß die verlängerten Strafzeiten nicht mit mehr Therapie einhergehen werden – für die ist kein Geld da – und also auch nicht mit einer verminderten Rückfälligkeit der Täter. Einer neuen Form des Populismus, für den die Trennung rechts/links längst irrelevant geworden ist, wird hier ein Triumph verschafft, der die Protagonisten auf der politischen Bühne keinen Pfennig kostet.

Das gesamte Strafrecht soll dahingehend umgebaut werden, daß Eigentumsdelikte milder, Körperverletzungsdelikte hingegen schärfer bestraft werden. Die niedersächsische Justizministerin Heidrun Alm-Merk begrüßte dies mit einem Verweis darauf, daß im Wilhelminismus „körperliche Auseinandersetzungen eher als innerpersonelle Angelegenheit“ behandelt worden seien, und das habe sich Gott sei dank geändert.

Andererseits werden so auch Schritt für Schritt immer weitere Bereiche des Sexuellen verrechtlicht, dem staatlichen Zugriff, aber auch den sorgenvollen Blicken einer gewarnten Öffentlichkeit zugeführt. Indem Vergewaltigung in der Ehe ein speziell benanntes Delikt wird – ob nun mit oder ohne Widerspruchsklausel – wo vorher die einfache Nötigung ausreichte, ist ein trauriger Sieg errungen. Traurig nicht zuletzt wegen des Frauenbildes, das gerade in dem Streit um die Widerspruchsklausel aufscheint: einschüchterbares, hilfloses Opfer, das man mit staatsanwaltschaftlicher Hilfe auf den Rechtsweg schieben und dort nach Kräften halten muß. Dabei zeigt der parteiübergreifende Konsens der Abgeordneten, daß ein solches Gesetz überhaupt gebraucht wird, wie sehr sich die Vorstellung vom „Verweigerungsrecht“ der Ehefrauen schon durchgesetzt hat.

Man fragt sich, warum das Terrain des befreiten Privaten, das auf den Familienfotos von Will McBride zu sehen ist, auf denen nackte Eltern und ihre Kinder sich angstfrei tummeln, so kampflos aufgegeben wird. Könnte es sein, daß die „Problematisierung“, wie der Soziologe Rüdiger Lautmann vermutet, „das Vergnügen stimuliert“, ein Vergnügen auch an der gewalttätigen Seite, ohne die es keinen Sex gibt? „Die Räder von Erotik, Gewaltsamkeit und Moral“, so Lautmann weiter, „greifen knirschend ineinander. Das gehört zu dem Preis, den die westliche Zivilisation dafür entrichtet, ihre Lebensverhältnisse dem strengen Diktat eines Rationalismus unterzuordnen, der sie in die Moderne befördert hat.“

Was immer der Grund ist: Die Konstruktion der Sexualität als Gefahrenzone, in der Richter und Sozialarbeiter als Blauhelme fungieren, ist selbst äußerst riskant. Dann erst läuft man Gefahr, Dispositive der Macht kennenzulernen, die dann aber an Konkretion nichts mehr zu wünschen übriglassen. Mariam Niroumand