80.000 Quadratmeter Leichentuch

Mit einem riesigen „Aids-Quilt“, einem Stoffteppich aus zusammengenähten Erinnerungsstücken, gedachten Aids-Aktivisten am Wochenende der Toten. Und jedes Jahr werden es mehr  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Gigantisch und trügerisch schön. 80.000 Quadratmeter mit rotem Samt, lila Seide, Spitzen, Stickereien. Zusammengenähte Collagen aus dem Lieblingshemd, dem Teddybär im schwarzen Lederoutfit, Lego-Spielzeug, Federboas, Cowboystiefeln und den „Stars and Stripes“. Davids blaue Baseballkappe. Lauras Badeanzug. Das Schulzeugnis von Nancy, ein Polaroid-Foto von Michaels Hunden, Roberts Rangabzeichen von den US-Marines.

Dazwischen immer wieder prominente Namen: Arthur Ashe, Michel Foucault, Rock Hudson, Anthony Perkins, Freddy Mercury. Das letzte Foto von Perry und Keith am Strand, Raúl stolz mit seinem Rennrad vor einer aufgestickten Filzsilhouette seines geliebten Manhattan. Familienbilder. Manche erzählen ganze Geschichten wie der Quilt der Gefängnisinsassinnen von Dansbury zum Gedenken an die Aids-Toten unter ihren Mitgefangenen. Andere sind eng mit Buchstaben bedruckt: „Mein Name ist Duane Kearns Puryear, geboren am 20. Dezember 1964. Ich wurde am 7. September 1987 um 16:45 Uhr mit Aids diagnostiziert ... Wenn Sie diese Zeilen lesen, bin ich tot.“ Manche leben – noch. Claudia, eine Aidskranke aus München, hat kleine Schattenfiguren mit Herzen aus Seide aufgenäht. Dazu eine große Figur im Vordergrund. Das ist sie selber.

Auf kleinen Pfaden schieben sich Menschen zwischen den Stoffquadraten hindurch, suchen mit Hilfe numerischer Listen nach Verwandten und Freunden. Über Lautsprecher verlesen Angehörige und Aktivisten in einem unendlichen Trauergesang die Namen der Toten. Eltern halten sich im Gebet umklammert, Liebhaber sitzen stundenlang und streichen mit den Fingern über den aufgenähten Namenszug ihrer toten Lebensgefährten, Teenager stehen mit verweinten Augen vor den Quilts von Schulfreunden. Dazwischen, ganz in Weiß gekleidet, halten freiwillige Helfer Schachteln mit Kleenex-Tüchern bereit. Die meisten bedienen sich schweigend. 150.000 finden sich am Abend zu einem Schweigemarsch mit Kerzen ein. Es ist Trauerfeier, Therapie und Gottesdienst zugleich – auf einem riesigen, wunderschönen Friedhof.

Ein deutscher Aids-Quilt wurde an diesem Wochenende zum ersten Mal auf der „Mall“, der großen Parkanlage zwischen dem Kapitol und dem Lincoln-Memorial, aufgerollt. 1987 hatten Aids-Aktivisten aus San Francisco das „Names Project“ begonnen, bei dem in der Tradition der Deckenstickerei der Aids-Toten gedacht wird. 70.000 sind auf dem diesjährigen Aids-Quilt zu finden. Weltweit sind inzwischen mindestens 5,8 Millionen Menschen an der Krankheit gestorben, davon 320.000 in den USA.

Nächstes Jahr wird die „Mall“ schon zu eng sein

Auf allzu große Resonanz waren Tom Wahl und Quaide Williams von der Münchner Aids-Hilfe anfangs nicht gestoßen, als sie im Dezember letzten Jahres ein „Names Project“ gründeten. „In Deutschland trägt man Trauer halt innerlich“, meint Wahl, der von der Idee eines Aids-Quilt vor allem deswegen überzeugt ist, „weil man die Opfer visualisieren kann“. Während eines Workshops über Trauerarbeit bei einem Positiven-Treffen in Bayern fanden sich denn auch einige Teilnehmer mit Stoffen, Nadel und Faden wieder. Andere Quilts wurden aus Halle und Bremen geschickt, und lagen an diesem Wochenende fein säuberlich zusammengenäht in der „internationalen Ecke“ auf der „Mall“ – Kopf an Kopf mit den Quilts des „Project HaShemot“ aus Israel. Wahl hofft, daß andere deutsche Städte die Idee des „Names Project“ aufgreifen, „bloß muß so was von selbst wachsen“.

Für die „Fundación Marozo“, eine Beratungs-und Hilfsgruppe aus Venezuela, steht die bittere Premiere eines Aids-Quilts noch bevor. In einigen Monaten soll eine erste Ausstellung in der Hauptstadt Caracas stattfinden. Barbara Martinez, Mitglied der „Fundación Marozo“, hat nach Washington einen kleinen Quilt mitgebracht – für ihren Bruder Raúl mit seinem Rennrad und seinem geliebten Manhattan.

Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte sie die Protestdemonstrationen von „ACT UP“ und anderen Organisationen am Rande der Gedenkveranstaltung gegen die astronomischen Preise für Aids-Medikamente. Die Versorgung mit sogenannten „Cocktails“, Kombinationen von Medikamenten, kostet pro Jahr rund 25.000 Dollar. Für viele Betroffene in den USA ist das unerschwinglich, für die überwiegend armen Patienten in Venezuela jenseits aller Möglichkeiten. „Bei uns sterben mehr Aids-Kranke an Hunger als an Komplikationen, die mit der Immunschwäche zusammenhängen.“ Nächstes Jahr wird Venezuela seinen Quilt zum jährlichen Gedenkwochenende mit in die USA bringen. Auf der „Mall“ wird es vermutlich nicht mehr stattfinden. Die Fläche ist bis dahin für den Quilt zu klein geworden.