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Ganz lange Glückssträhne

Städte im Film (II): Paddywood, ha, ha! Plötzlich wird wie aus Hubschraubern Geld über der Dubliner Filmindustrie abgeworfen. Auch der junge Mensch geht heute wieder hin, schon wegen der unterhaltsamen Arbeitslosenfolklore  ■ Von Ralf Sotscheck

Als Michael Aherne die Menschenschlange vor dem Dubliner Mansion House sah, drehte er sich um und wollte gehen. Mehr als 3.000 Leute hatten sich für eine Rolle in Alan Parkers Film „The Commitments“ beworben. Weil er als einziger einen dunklen Anzug trug, fiel Aherne jedoch einem Assistenten von Parker auf, und er fragte ihn, welches Instrument er spiele. Da man dringend einen Keyboard-Spieler benötigte, mußte Aherne nicht lange warten: Er bekam die Rolle als Stephen „Soul Searching“ Clifford, einer der zwölf Commitments, die allesamt von Amateuren gespielt wurden.

Roddy Doyles Barrytown ist in Wirklichkeit Kilbarrack, ein Arbeiterviertel im Norden Dublins. Bis vor wenigen Jahren war Doyle dort Lehrer. Zwar geht es dort im richtigen Leben nicht so vergnüglich zu wie in seinen Romanen, wo die Welt der Arbeitslosen seltsam ländlich, das nächste Pub nicht weit ist und die Kids nicht auf Fahrrädern, sondern auf Ponys herumflitzen. Aber mit dem Arbeiterfilm der 20er Jahre, womöglich nach dem Vorbild von „Kuhle Wampe“, hat man in Irland nichts mehr zu tun – was sich nicht zuletzt dem belebenden Einfluß solcher Fernsehstationen wie Channel Four verdankt, die verfilmte Pamphlete ablehnen.

Die Anfangsszene der „Commitments“ wurde in Sherriff Street gedreht, einer kleinen Straße in der Nähe des Hafens, in die sich kein Polizist hineintraut. Diese Straße war auch Drehort für die Belfaster Straßenschlacht in Jim Sheridans Film „Im Namen des Vaters“, obwohl Belfasts Arbeiterviertel eigentlich mehr Ähnlichkeit mit englischen Industriestädtchen und ihren roten Backsteinreihenhäusern haben.

Dublin wird gerne mal umgewidmet. So mußte es auch mehrmals für Berlin herhalten. Der „Blaue Max“ von 1966 löste bei irischen Kinogängern Belustigung aus: Während im Vordergrund eine erbitterte Schlacht des Ersten Weltkriegs tobte, war im Hintergrund deutlich der Sugarloaf zu erkennen, der markanteste Berg der Grafschaft Wicklow, südlich von Dublin. Der Film löste übrigens einen Boom von Filmen über den Ersten Weltkrieg aus, von denen die meisten im neutralen Irland gedreht wurden. „Der Spion, der aus der Kälte kam“, ein Thriller aus dem Kalten Krieg, wurde 1964 in Dublin gedreht. Checkpoint Charlie wurde auf dem Norddubliner Smithfield Market nachgebaut, wo auch die Eröffnungsszene der „Commitments“ gedreht wurde. Liz Taylor, die Richard Burton zu den Dreharbeiten beim „Spion, der aus der Kälte kam“ nach Dublin begleitete, hat die irische Hauptstadt vermutlich in schlechter Erinnerung behalten: Bei der Schiffspassage mußte sie sich pausenlos übergeben, und kaum war sie in Dublin angekommen, wurde ihr der gesamte Schmuck geklaut.

Für Irland wurden die „Commitments“ und Roddy Doyles berühmte Barrytown-Trilogie der Auftakt zu einer Art Royal Flush, dem eine lange Glückssträhne folgte, die der Grünen Insel schließlich den Spitznamen „Paddywood“ einbrachte.

Was da entstand, war gar nicht ohne Brisanz: Jim Sheridan drehte „In The Name Of The Father“, einen Film über die Guildford Four, die 15 Jahre unschuldig in britischen Gefängnissen saßen – Riesenecho vor allem in der britischen Presse. Der Film war sowohl die irische Version des Teenage-Rebellion-Films als auch etwas für die Veteranen des Befreiungskampfes – ein Zuschnitt, der sich in Irlands Kino oft bewährt hat. Selbst Disney kam nach Dublin, mit dem bezeichnenden Titel „The Old Curiosity Shop“. Neil Jordans „The Crying Game“ hatte die irischen Identitätsprobleme sogar noch mit gewagten sexuellen Konstruktionen versetzt. Sein darauffolgender Film „Michael Collins“ mit Liam Neeson und Julia Roberts feierte einen irischen Befreiungskämpfer, wiederum sehr zum Ärger der britischen Presse, die dem Film prompt historische Unzuverlässigkeit attestierte. Brenzlig waren auch „Some Mother's Son“ und „Nothing Personal“, denn sie befaßten sich wieder direkt mit der neueren Geschichte des Nordirland-Konflikts. Die mageren 80er Jahre sind vorbei, in der Filmbranche herrscht Vollbeschäftigung.

Was war geschehen, wie kommt der plötzliche Dubliner Filmboom zustande? „Section 35“ heißt das Zauberwort. Das Gesetz aus dem Jahr 1987 erlaubt, Investitionen in die Filmindustrie von der Steuer abzusetzen. Fortan boomte das Geschäft, die Zahl der in Irland produzierten Filme vervierfachte sich 1993 im Vergleich zum Vorjahr auf 16, 1995 waren es sogar 18 große Spielfilme. „Es ist, als ob ein Hubschrauber Geld über Irland abwerfen würde“, freut sich Kevin Moriarty, Geschäftsführer der Ardmore Studios in Bray, einem Dubliner Vorort.

Der erste professionelle Film aus Irland war Robert Pauls „Whaling Afloat And Ashore“ aus dem Jahr 1908, aber schon ab 1910 kamen die meisten „irischen Filme“ anderswo her. US-Regisseur Sidney Olcott mit seiner Kalem Film Company drehte den ersten US- Film außerhalb der USA: „The Lad From Old Ireland“. Die Sache war so erfolgreich, daß Olcott jeden Sommer nach Irland zurückkam und neue Filme machte. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs entstanden 30 Filme, die meist irisch- amerikanische Immigration oder Remigration behandelten. Sogar D.W. Griffiths „Birth Of A Nation“ entstand in jenem Old Ireland. Der zweite und letzte Film des Unternehmens war „Willie Reilly and His Colleen Bawn“, der von der Verbindung eines katholischen Mannes mit einer protestantischen Frau Mitte des 18. Jahrhunderts erzählt. Regisseur John Mac Donagh wählte ein Pseudonym, weil er als IRA-Mitglied auf den Fahndungslisten stand. Sein Bruder Thomas hatte am Osteraufstand 1916 teilgenommen und war dafür hingerichtet worden.

So wurde das Bild der Iren, das man sich im Ausland machte, von ausländischen Filmen mit den entsprechend archaischen Klischees geprägt. „The Quiet Man“ von 1952, ein irischer Western mit John Wayne und Maureen O'Hara, und „Ryan's Daughter“ von 1971, ein monumentales Melodram vor dem Hintergrund des Osteraufstands im Jahr 1916. In beiden Filmen werden die Iren vor allem als gewalttätig, einfach und trinkfreudig dargestellt – ihr Land als Rettung vor der Anonymität der kalten amerikanischen Großstadt.

Das nehmen sie nicht weiter krumm – im Gegenteil: Das alte Schulhaus auf der Dingle-Halbinsel aus „Ryan's Daughter“ ist ein beliebter Ausflugsort, und im Juni 1996 wurde in Cong, dem Drehort von John Fords „Quiet Man“, ein Besucherzentrum rund um den berühmten Film eröffnet. Jedes Jahr im Juli findet dort das „Quiet- Man-Festival“ statt, dessen Krönung die Wahl des besten John- Wayne-Doppelgängers ist.

Das schiefe Bild, das durch viele ausländische Produktionen entstanden ist, kann nur durch die jungen irischen Regisseure geradegerückt werden. „Der neue irische Film deutet an“, sagt Luke Gibbons vom Irish Film Institute, „daß in der kritischen Beschäftigung mit der Vergangenheit, der Auseinandersetzung mit Tradition als Geschichte, das Kino eine zentrale Rolle übernehmen kann, indem es den Iren hilft, ein neues Selbstbild zu entwickeln.“

Die Iren gehen ständig ins Kino. Mit 2,8 Besuchen pro Person und Jahr liegen sie in Europa deutlich an der Spitze. Ihr allererstes Kino hieß Volta und wurde 1909 ausgerechnet von James Joyce eröffnet. Man gab nur italienische Filme! Inzwischen verschwanden das Regent und das Royal, aus dem Metropole und dem Capitol wurden Kaufhäuser, das Grand Central, das Astor, das Masterpiece und auch das Volta wurden abgerissen. Jetzt gehen die Leute nicht mehr in die traditionellen Häuser mit ihren großen Sälen, schweren Teppichen und samtenen Vorhängen, sondern in die Multiplexkinos. Auch die irische Filmindustrie hat endlich eine Heimat gefunden: das Irish Film Centre in Dublins Temple Bar, das im Herbst 1992 eröffnet wurde. Unter einem Dach sind dort zwei Kinos, das irische Filmarchiv, eine Filmbibliothek, ein Buchladen, ein Restaurant und ein Pub untergebracht. Das Filmarchiv arbeitet fieberhaft an der Erhaltung der bewegten irischen Filmgeschichte. Vieles ist jedoch für immer verloren. „Die Zerstörung der irischen Filmgeschichte ist beträchtlich“, klagte 1976 der Filmemacher und Archivar Liam O'Leary, „es ist kein Wunder, daß die jungen Leute nur wenig oder gar keine Ahnung von einem Medium haben, das das Leben der Nation mitbestimmt hat.“

Aber in Irlands Filmindustrie ist alles möglich. Das zeigt die Geschichte der Film Company of Bray. Das Unternehmen produzierte nur einen einzigen Film, doch dem war 1920 internationaler Erfolg beschieden. „Rosaleen Dhu“ wurde von einem blinden Kameramann gedreht und von einem Barbiergehilfen entwickelt.

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