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Küßchen suchen Liebhaber

Früher Bückware, heute Konkursmasse: Für die „Grabower Küßchen“ wird ein neuer Investor gesucht – die Arbeiterinnen warten auf ihren Lohn  ■ Von Judka Strittmatter

Der Feind ist aus Plastik und thront auf dem Schreibtisch. Und schrillt. Dieter Kressin holt tief Luft und stellt sich dem Angriff: Er nimmt den Hörer vom Telefon. Als das Gespräch beendet ist, scheint die Falte zwischen seinen Augenbrauen etwas tiefer. „Einer unserer Spediteure hat die Ware irgendwo bei Nürnberg abgestellt“, brummt er. „Der hat im Radio gehört, daß wir pleite sind.“

Kressin, Geschäftsführer der Grabower Dauerbackwaren GmbH, 55 Jahre alt, erlebt einen heißen Herbst. Alle wollen mit ihm nur übers Geld reden: Angestellte, Journalisten, das Wirtschaftsministerium in Schwerin – alle fragen, warum von der rosaroten Zukunft der „Grabower Küßchen“ nur tiefrote Zahlen geblieben sind, warum der Traditionsbetrieb im Kiebitzweg nun auch die Grätsche macht. Warum, verdammt noch mal, es die früheren Neger- und heutigen Schokoküsse aus Mecklenburg- Vorpommern nicht geschafft haben. Ausgerechnet diese Schokozipfel, für die man zu DDR-Zeiten nur eines brauchte: gute Beziehungen zur Verkäuferin. Wieder Schluß mit einem Ostprodukt?

Dieter Kressin, Extreuhänder und Grabow-Kenner seit 20 Jahren, hat sich an die scharfen Töne gewöhnt. Am 27. September um fünf Uhr unterschrieb die Berliner Geschi-Brot Schiesser & Sohn GmbH den Konkursantrag für eine ihrer Tochtergesellschaften, die Grabower Dauerbackwaren GmbH. Ein paar Stunden vorher war die letzte Kreditverhandlung mit den Vertretern des Schweriner Wirtschaftsministeriums und der Hausbank des Unternehmens gescheitert. Das Schweriner Amtsgericht setzte den Hamburger Rechtsanwalt Hans-Ulrich Hildebrandt als Zwangsverwalter ein. Im Wirtschaftsministerium hat man sich Optimismus verordnet: „Der Betrieb soll keine Stillegung erfahren“, sagt eine Sprecherin.

Verpackerin Bärbel Lange erfuhr es aus dem Radio, als sie mit ihrer Familie beim Sonnabendfrühstück saß. „So 'ne komische Ahnung“ hatte die 37jährige schon länger, es begann damit, daß im letzten Jahr befristete Angestellte entlassen wurden. Auch die neu installierte Mini-Kuß-Anlage lief nicht mehr in jeder Schicht. „Seit Juni hat sich von der Betriebsleitung keiner mehr hier unten sehen lassen“, sagt sie. Zwar hätte Kressin auf der Betriebsversammlung davon gesprochen, daß es „Schwierigkeiten gäbe“, aber erst jetzt wissen sie und ihre Kolleginnen, was er damit meinte. „Wir haben alles für den Betrieb gegeben“, schimpft Bärbel Lange mit breitem mecklenburgischen Akzent, „und nun so 'ne Enttäuschung.“

Das Meisterbüro mit den vergilbten Perlongardinen und Schreibtischen aus sozialistischen Urzeiten ist in diesen Tagen das Strategie- und Versammlungszentrum der Frauen. Sie stellen den größten Anteil der rund 100 MitarbeiterInnen, die dem Betrieb seit der Wende geblieben sind. Seitdem „die Sache“ raus ist, wälzen sie jede Frage nach Schuld und Zukunft hin und her: Was passiert, wenn ein neuer Besitzer kommt? Wann ist der Augustlohn endlich auf ihren Konten? Was ist mit den mehr als 100 Überstunden, die sie geschrubbt haben? Obwohl sie alle das gleiche wollen, nämlich „hier weitermachen“, hat sich Mißtrauen in die Produktionshalle geschlichen. „Die älteren Frauen haben Angst, was zu sagen“, sagt Bärbel Lange und schaut rüber zu einer Kollegin, die stumm Papiere ausfüllt. „Vielleicht schmeißt der neue Investor sie raus, vielleicht kürzt er die Abfindungen – man weiß das ja alles nicht.“ Auch Bärbel Lange ist sich oft nicht ganz sicher, ob sie nicht lieber „die Klappe halten soll“. Schließlich ist die Backbude der letzte Produktionsbetrieb in Grabow. Die Molkerei, die Kleiderwerke, die Brauerei – alle haben dichtgemacht. Neulich hat sie einen Reporter gefragt, ob sie eine Strafe kriegen kann, wenn sie so „über den Schiesser meckert“.

Wofür der Name Horst Schiesser steht, hat sich auch bei den Küßchen-Machern in Mecklenburg-Vorpommern rumgesprochen. „Die Atmosphäre ist hier sehr durch die Vulkan-Pleite belastet, jetzt meinen die Leute, das auch in Grabow nur Kohle abgeschöpft werden sollte“, sagt Geschi-Sprecher Thomas Suwelack. Der Bäcker Horst Schiesser, Hauptgesellschafter der Geschi- Brot GmbH, war 1986 in die Schlagzeilen geraten, als er das Gewerkschaftsunternehmen Neue Heimat für eine Mark erwarb, es 14 Tage später aber wieder zurückgeben mußte. Fünf Ostbetriebe hat Schiesser von der Treuhandanstalt gekauft: Die Burger Knäcke GmbH, die Berliner City-Back GmbH, die Harzbäckerei Wernigerode, die Lausitzer Backwaren GmbH und die Grabower Dauerbackwaren GmbH. Weil nach Angaben des Geschi-Unternehmens rund 40 Millionen Mark in diese Betriebe flossen, gerieten Schiesser-Bäckereien in Westdeutschland ins Schlingern und mußten Konkurs anmelden. Schiesser kam mit einem Vergleich davon.

Für Grabow hatte der Berliner Unternehmer große Pläne. 1993 und 1994 wurde die zwölf Millionen Mark teure Mini-Kuß-Anlage installiert. Das Land übernahm die Bürgschaft für ein 17-Millionen- Mark-Darlehen, Fördermittel von rund 2,5 Millionen Mark gab es obendrauf. Doch 1994 verschmähten die Leckermäuler des Ostens und des Nordens die Schaumküsse aus Grabow. Die Mini-Maschine lief nur auf halben Touren, trotzdem drückten die Zinsen. „Die teure Anlage, der schlechte Sommer – das war tödlich“, sagt Dieter Kressin. Seit 1995 fuhr die GmbH Verluste von 400.000 Mark monatlich ein, der Umsatz schrumpfte zwischen 1993 und 1996 von 30 auf 22 Millionen Mark.

Hinzu kam, so Dieter Kressin, ein „fataler Schreibfehler“. In der Bilanz tauchten Teile der Waffelanlage als Neuanschaffung auf. Neu waren diese Teile schon, da sie aber aus einer Konkursmasse stammten, belief sich ihr Wert auf nur 540.000 Mark und nicht, wie es bei Geschi steht, auf zwei Millionen Mark. Jetzt prüft das Land, wie dieser lukrative Schreibfehler passieren konnte.

Konkursmasse hin, Waffelanlage her – Bärbel Lange, Hanna Dastig und Ute Hansen schwimmen seit Monaten in einer klebrigen Melange aus Ängsten und Gerüchten. Noch immer steht der Lohn für August aus: Schlimm ist es bei allen – der Nettoverdienst liegt zwischen 1.000 und 1.400 Mark; besonders schlimm ist es bei den Ehepaaren, da fehlt gleich das ganze Familienbudget. Und dann noch die unregelmäßigen Schichten, immer so, wie gerade Waffeln und Schokolade da sind: Wenn Hanna Dastig zum Arzt muß, besorgt sie sich zwei Termine, einen vormittags, den anderen nachmittags. Ute Hansen hat ständig Krach mit ihrem Freund, weil sie sich nicht wie gewohnt um die Kinder kümmern kann. Und in dem 7.300-Seelen-Städtchen an der Elde vermissen die Wirtin der „Schlachterbörse“ und die Verkäuferin des „Grabower Backhauses“ ihre Kunden aus der Dauerbackwarenfabrik. „Die gehen nicht mehr so oft essen, und zum Einkaufen schicken sie ihre Kinder.“ Im Röba-Lebensmittelladen demonstriert die Verkäuferin Solidarität. Am Eingang hat sie Zwölferkartons mit Grabowern gestapelt. Schließlich würden sogar die Touristen aus ihren Kanus steigen, um die legendären Schokoküsse zu kaufen. Lokalpatriotismus macht sich auch unter den Teenagern breit: „Unsere schmecken besser, die sind nicht so lapprig wie die Dickmänner“, sagt ein Mädchen.

Die miese Stimmung in der Kuß-Fabrik entlädt sich überall – am Band, im Meisterbüro, auf der Straße. „Für das bißchen Geld buckle ich hier wie ein Pferd“, mosert Hanna Dastig, „mit 500 Mark Sozialhilfe würde ich ruhiger leben. Wir im Osten sind die deutschen Türken.“ Seit 18 Jahren ist sie hier, mit 16 hat sie beim VEB angefangen, und sie kann „gar nichts anderes als Waffeln und Negerküsse verpacken“. Was die Arbeit angeht, sagen die Frauen, können sie einfach nicht über ihren DDR-Schatten springen. Nie im Leben könnte sie sich vorstellen, mit 37 Jahren die Füße unter den Tisch zu stecken: „Wir wurden doch zur Arbeit erzogen“, poltert es aus Bärbel Lange heraus. Aber jetzt ist sie wütend: „Die von der Geschäftsführung können froh sein, daß wir am Montag nach der Pleitenachricht noch zur Arbeit gekommen sind.“

Dieter Kressin weiß, was los ist in der Produktionshalle. Er weiß, daß die Frauen arbeiten wollen, daß sie Zugeständnisse in Kauf nehmen würden. „Die Angst ist doch das Normale in den neuen Bundesländern“, sagt er. Und nach einer Pause: „Aber in den alten mittlerweile auch.“

Das Verrückte in Grabow: Trotz Pleite sind die Auftragsbücher voll. „Eigentlich müßten wir 40 Leute zusätzlich anstellen.“ Das betrifft aber vornehmlich die Corner“, sagt Kressin, „unsere Knusperwaffeln.“ Für die Corner aber fehlt die Technik, und in seinem Büro stapeln sich die bösen Briefe wartender Kunden. Weil der Wettbewerb „knallhart ist, auch bei Negerküssen“, und weil auch Dieter Kressin will, daß die Grabower weiterleben, kann er nur hoffen, „daß hier jemand mit Know-how reinkommt“, jemand, der „was von Minis versteht, von Rezeptur und Vertrieb“. Immerhin habe Zwangsverwalter Hildebrandt bereits erklärt, daß er „Grabow nicht zerschlagen will“. Kressin: „Der bringt sich um für den Laden.“

Seit ein paar Tagen haben die Frauen im Kiebitzweg wieder Waffeln und Schokolade, die Produktion läuft voll. Es wird erzählt, daß „so ein Waffelfabrikant aus dem Ruhrpott geliefert hat, der vielleicht auch der Neue wird“.

Otto Lithardt, Besitzer der Ruhrkrone Waffel- und Süßwaren GmbH im westfälischen Herten, sieht sich kurz vor einem lange verfolgten Ziel. Seit fünf Jahren will der 52jährige Unternehmer „Grabow haben“, bislang vereitelte die Treuhand seinen Traum. „Ich bin der einzige Insider, und unsere Chancen stehen gut, den Zuschlag zu bekommen“, sagt Lithardt. Grabow, die Schokoküsse, die Mannschaft – „alles würde gut zu uns passen“, posaunt der Unternehmer im Geschäftsfieber. Er hat gute Vorsätze, beeindruckende Pläne und will alles „schnell lösen“: Die Minis sollen in ganz Europa verkauft, zehn Millionen Mark „an entscheidenden Schnittstellen investiert werden“. Und die Angestellten bräuchten keine Angst um ihren Job zu haben. Lithardt: „Ich will die Produktion erweitern.“

Ist das der neue Besitzer, den sich auch der Grabower Bürgermeister für seine Schokokuß-Fabrik vorstellt? Ulrich Schult sagt nur eins: „Da muß endlich wieder jemand rein, der die Grabower Küsse liebt.“

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