■ Aufruhr gegen Belgiens Justiz nach den Kindermorden
: Politisch korrumpierte Richter

Empörung im ganzen Land, Dutzende von wilden Streiks, in Lüttich geht die Feuerwehr mit Wasserwerfern auf den Justizpalast los – und das alles, weil ein Untersuchungsrichter abgesetzt wurde. Jean-Marc Connerotte hatte einen menschlich verständlichen, aber juristisch fatalen Fehler gemacht. Er hat sich von einer Elternorganisation, die im Prozeß um die entführten und mißbrauchten Kinder als Nebenkläger auftritt, zum Essen einladen lassen. Das hätte auch in jedem anderen Land gereicht, ihn wegen Befangenheit abzusetzen.

Die Ursachen für den Aufruhr liegen tiefer. Die Absetzung von Connerotte war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Es klingt hart, aber es ist so: Die Justiz wird von weiten Teilen der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert. Die zahlreichen Skandale, die vielen unaufgeklärten Fälle, vor allem aber das Versagen bei der Suche nach den vermißten Kindern – das alles hat das Vertrauen in die Justiz unterminiert. Wut und Empörung kommen aus der Angst, daß es noch schlimmer wird. Die Hinweise verdichten sich, daß es in Belgien seit Jahrzehnten ein Netz von Kinderprostitution gibt. Niemand glaubt, daß Polizei und Staatsanwälte, die bisher geschlafen haben, jetzt plötzlich in der Lage sind, etwas dagegen zu unternehmen. Daß die belgische Justiz nicht so funktioniert, wie sie sollte, gehört inzwischen zu den Allgemeinplätzen.

Schuld sind nicht böse oder unfähige Richter, schuld ist ein politisches System, das den Justizapparat unter parteipolitischen Gesichtspunkten aufgeteilt hat. So wie die Christdemokraten das nördliche Flandern fest im Griff haben, so uneingeschränkt herrschen die Sozialisten im südlichen Wallonien. Ohne das richtige Parteibuch wird in Belgien niemand Richter oder Staatsanwalt. Der Einfluß der Parteien reicht bis in die einzelnen Verfahren. Vor zwei Jahren wurde Connerotte ein politisch brisanter Fall weggenommen, weil er den Sozialisten zu unabhängig war. Deshalb ist es verständlich, daß die Entscheidung des Kassationshofes, Connerotte jetzt wegen Befangenheit abzusetzen, als Heuchelei empfunden wurde. Alois Berger