Zwischen „Verdun“ und dem „8. Mai 1945“

49 Minuten und 34 Stationen dauert die unterirdische Reise mit der Pariser Metrolinie 7. Die Namen der Bahnhöfe erzählen Geschichten, am Ende der Fahrt geht's dann entweder in Richtung „Maxim Gorki“ oder „Stalingrad“  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Am Anfang ist ein kreisrunder Platz. Locker umbaut mit grauen und roten Backsteinhäusern, die schon bessere Tage gesehen haben. Darin untergebracht sind eine muslimische Fleischerei, eine mit Graffiti bespritzte Post, eine Konditorei mit halbleeren Vitrinen, eine Bar mit Vorhängeschloß vor dem Kühlschrank und ein Supermarkt, vor dessen Türen ein alter weißer Mann die Hand aufhält und zwei dunkelhäutige Jugendliche gegrillte Maiskolben verkaufen. Um zu den Wohntürmen zu gelangen, die diesen Ort zur Stadt machen, muß man in die metallic-türkis lackierte Straßenbahn steigen, die mit heimeligem Gebimmel die Lenin-Avenue überquert.

Der Platz im Zentrum von La Courneuve heißt wie das Datum der letzten deutschen Kapitulation: „8. Mai 1945“. Der aktive Untergrund, von dem aus die Vorstadt seit den 80er Jahren mit der Metropole verbunden ist, trägt denselben Namen. Schnörkellose gelbe „M“ auf stählernen Trägern weisen den Weg hinab. Weißgekachelte Treppen und Gänge führen zum Bahnsteig der Metro 7, die von der Endstation „La Courneuve, 8. Mai 1945“ im Norden über Paris bis nach Villejuif im Süden verläuft. 19 Kilometer, auf denen jeden Tag 270.000 Menschen von 65 Zügen befördert werden.

Die schwarze Frau mit dem gelben Turban auf dem Kopf und dem Baby vor der Brust hat ein Mädchen, das auf dem Bahnsteig bleiben will, in den Waggon gezogen. Kaum setzt sich der Zug in Bewegung, beginnt die Kleine auf den Sitzen zu hüpfen. Die Mutter ruft ihr vom anderen Waggonende Verbote zu. Aber die Dutzende von Zöpfchen fliegen weiter durch die Luft. Drei Stationen später, als die Kleine an der Hand der Mutter aus dem Waggon herausspaziert ist, bleiben helle Abdrücke von Kinderturnschuhen auf den blauen Plastikbezügen zurück.

Einige Stationen weiter ist „Stalingrad“, das beim Bau der Linie 7 „Aubervilliers“ hieß und erst 1946 den Namen der umkämpften sowjetischen Stadt erhielt. Auf dem Platz über der Station im Pariser Nordosten treffen allabendlich junge Männer ein, die stundenlang zwischen klassizistischen Säulen auf- und abgehen. Für die Polizei ist „Stalingrad“ Europas wichtigster Crack-Umschlagplatz.

„Stalingrad“ ist Europas Umschlagplatz für Crack

An der „Gare de l'Est“ findet drei Stationen später ein kompletter Passagieraustausch statt. Auch der alterslose Mann mit den schlotternden Breitcordhosen, der minutenlang mit gesenktem Kopf im Gang der 7 gestanden und einen handgeschriebenen Zettel: „Fünf Jahre auf der Straße, wollen Sie helfen?“ hochgehalten hat, steigt aus und verschwindet im Gewühl. Drei Metrolinien in alle Himmelsrichtungen und die Fernzüge nach Lothringen und ins Elsaß kreuzen sich an dieser Stelle. Hunderttausende junger Männer warfen an der „Gare de l'Est“ den letzten Blick auf das zivile Leben, bevor sie als bärtige poilus in Sichtweite ihres deutschen Feindes in den Schützengräben an der Maas verreckten. Ihnen zur Ehre erhielt die Station den Untertitel „Verdun“. Der Vorplatz heißt nach dem Datum der vorletzten deutschen Kapitulation „11. November 1918“.

Die rothaarige Dame mit dunkelgrünem Hütchen steigt fünf Stationen später in „Chaussée d'Antin“ zu. Mit einem Handschuh wischt sie über den blauen Plastiksitz. Dann hebt sie das kleine Mädchen auf den Schoß, das in seinem blauweißen Karokleidchen mit Schürze so aussieht, als sei es direkt aus einem der Schaufenster der Galeries Lafayette, die über der Station liegen, in die Metro umgestiegen. Jedesmal wenn das laute Kurvenquietschen der Metro in den Waggon dringt, hält die Dame schützend ihre Hände über die Ohren des Mädchens. Ihr Parfum mischt sich mit der warmen Metroluft, die zweieinhalbmal so verunreinigt und mit zwanzigmal mehr Bakterien angereichert ist als die Luft an der Oberfläche.

In dem Hochaus über „Jussieu“, der ersten Station auf der linken Seine-Seite, dürfte die Luft allerdings noch schlechter sein. Seit Jahren wird in den asbestverseuchten Räumen studiert. Die ursprünglich für diesen Herbst angekündigte Sanierung der Universität ist aus Platzmangel wieder verschoben worden. Dutzende ernster junger Leute mit Plastikrucksäcken steigen in „Jussieu“ in die 7.

Fünf Stationen weiter südlich steigt ein asiatischer Passagier mit Elvis-Tolle zu. Über der Station „Tolbiac“, deren Namen an eine Schlacht erinnert, die ein gewisser Frankenkönig Chlodwig vor 1.500 Jahren im späteren Zülpich gewonnen hat, beherrschen lackierte Enten die Schaufenster. Der in den 70er und 80er Jahren kahlschlagsanierte Stadtteil rund um „Tolbiac“ ist China-Town.

Gleich hinter „Maison Blanche“, wo 1995 die letzte Bombe der Attentatsserie in einem Papierkorb explodierte, ist Paris zu Ende. Die 7 unterquert den Périphérique, auf dem achtspurig die Autos im zähen Stau um die Hauptstadt rollen. Die Metroröhre ist eckig, wie in La Courneuve. Auch die verschnörkelten goldigen Rahmen, die in Paris die Werbeflächen markieren, sind verschwunden. Die Endstation „Villejuif“ erweist im Untertitel dem Dichter „Louis Aragon“ die Reverenz.

49 Minuten und 34 Stationen nach dem Beginn der Reise ist die 7 wieder im real existierenden sozialistischen roten Gürtel angekommen. Die ankommenden Fahrgäste haben die Wahl zwischen den Ausgängen „Maxim Gorki“ und „Stalingrad“. Durch weißgekachelte Gänge und über Treppen werden sie in ein ebenerdiges Einkaufszentrum hinaufgeführt. Darüber türmt sich ein mehrstöckiges graues Parkhaus in den Vorstadthimmel. Von beiden Seiten des Metrobahnhofs fahren Busse zu den Wohnsilos der Umgebung ab.