Marktplatz der Tonsetzer

In Donaueschingen stellt Neue Musik sich selbst zur Diskussion – unter Einschluß der Öffentlichkeit. Wie lange noch, ist nach den diesjährigen Musiktagen unklarer denn je. Die Rundfunkhäuser wollen ein ungeliebtes Kind loswerden  ■ Von Frank Hilberg

Der Geist kondensiert mitunter an entlegenen Orten. Etwa in Donaueschingen, einem kleinen Ort, der alljährlich ein großes Ereignis ausrichtet. Dort, wo der Zusammenfluß von Brigach und Breg den Ursprung der Donau bilden, inmitten lieblicher Wiesen, findet alljährlich das wohl bedeutendste Festival Neuer Musik statt.

In Donaueschingen spiegelt sich die Situation der Neuen Musik – schon aus Tradition. Vor fünfundsiebzig Jahren – Obacht, Jubiläum! – fand unter dem Patronat des Fürsten zu Fürstenberg erstmals ein Reigen von Konzerten statt, der rasch zur Institution wurde und später unter dem Titel „Donaueschinger Musiktage für zeitgenössische Tonkunst“ firmierte. Alle großen Namen neuerer Musikgeschichte – Hindemith, Schönberg, Webern oder Berg – haben hier debütiert, mitgewirkt und Spuren für nachfolgende Komponistengenerationen gelegt. Thomas Mann setzte in seinem „Doktor Faustus“ Donaueschingen als reales Modell für die imaginären Aufführungen des fiktiven Tonsetzers Adrian Leverkühn.

„Der Geschmack der meisten ist nicht der Geschmack der Besten“, sagte in diesem Jahr der Festredner August Everding, sich für die elitäre Warte sogleich entschuldigend. Aber so ist sie nun einmal, die Musik im Stadium der Forschung und Neuformulierung. „Musik finden, nicht erfinden, und sie immer wieder neu buchstabieren“ – so benannte Helmut Lachenmann die vornehmlichste Aufgabe eines Komponisten mit dem Anspruch, „sich den Maßstäben der Tradition zu stellen und darüber hinauszuweisen“.

Ein Beispiel, wie das in der Praxis klingen könnte, gab der junge Franzose Marc André in seinem nicht in allen Teilen gelungenen Stück „Un-Fini“ (keines der zweiundzwanzig vorgeführten Stücke war vollständig geglückt – falls sich so etwas nach einmaligem Hören sagen läßt). Bemerkenswert schon die Besetzung: zwei Klaviere, in deren Innerem auch zwei Schlagzeuger arbeiten, Harfe und Cymbalon (auch bekannt als Hackbrett, eine Art riesige Zither, mit Klöppeln gespielt). André beschränkt die Palette seiner Klänge auf eine monochrome Auswahl, die von dem Klangapparat „Klavier“ abgeleitet ist, wobei das Prinzip der „geschlagenen Saiten“ zum kompositorischen Thema des Stückes erhoben wird. Harfe, Cymbalon und Schlagzeug erweitern und modifizieren durch Präparationen das Instrument zu einem imaginären Überinstrument.

Den großflächig angeregten Saiten läßt André Wolken schwebende Cluster entquellen, die er durch präzise Instrumentierung und kombinierte Spielweisen formt. Er definiert subtil die Einschwingung seiner Klänge, läßt ihnen Raum, sich zu entfalten und aufzulösen. Doch entgleitet ihm die anfangs gut abgestimmte Dramaturgie im mittleren Teil, die Selbstbeherrschung läßt nach – ein Gewitter, das lastet, sich aber nicht entlädt.

Stadt, Land, Fürst und Rundfunkrat

Gewitterwolken anderer Art überzogen das Jubiläumsjahr, das von existenzbedrohenden Anfechtungen gezeichnet ist. 1950 übernahm der Südwestfunk die künstlerische Verantwortung für das Festival. Fürderhin stellten Redakteure des öffentlich-rechtlichen Rundfunks das Programm zusammen und brachten ihr Sinfonieorchester ins Spiel. Unter ihren namhaften Dirigenten Hans Rosbaud, Kazimir Kord und Michael Gielen wurde es im Abarbeiten ständig neuer Herausforderungen zu einem der besten Orchester überhaupt. Längst ist seine Spitzenstellung in Sachen Neue Musik unangefochten.

Glänzendes Image, weltweite Verbreitung, ästhetischer Maßstab – warum Anfang des Jahres der Intendant des SWF, Peter Voß, auf die Schnapsidee kam, im Rahmen einer Sparaktion ausgerechnet die Festivalförderung einzuschränken, kann rational nicht geklärt werden. Die in Frage stehenden Summen sind vergleichsweise lächerlich: 1,5 Millionen Mark kostet das Unternehmen jährlich, 600.000 Mark kamen vom SWF, der Rest von Land, Stadt und Fürst. Voß hat den Auftrag, bis zur Jahrtausendwende 30 Millionen Mark zu sparen, 300.000 Mark sollen bei den Musiktagen gestrichen werden. Die Einsparung beträgt ein Prozent, doch der Veranstaltung wäre damit praktisch der Garaus gemacht.

Voß ist so eine Aktion leider zuzutrauen. Daß seine kulturellen Visionen sich mit denen eines Zahnpasta-Managers decken, hat nicht nur Nachteile: Ignoranz ist nützlich, wenn es darum geht, politische Vorgaben umzusetzen. Und darin ist er unbeugbar – auch wenn Mittel und Ziel nicht immer in einem schönen Verhältnis zueinander stehen.

Eine Welle von offenen Briefen, Schreiben von namhaften Komponisten, Kritikern, Veranstaltern und Interpreten konnte für diesmal den ebenso plumpen wie dreisten Versuch abwenden, das unbequeme Kind loszuwerden. Auch die zweite Unmöglichkeit, nämlich die Halbierung durch Umwandlung in eine Biennale (schon jetzt ist in den drei Tagen nicht genug Platz für Aufführungen, vom Zusammenbruch der Kontinuität ganz abgesehen) ist durch die Akquisition von Sponsoren und neuen Trägern abgefangen worden. So schön es ist, daß sich zukünftig die Kulturstiftung der Deutschen Bank (mit 200.000 Mark) und das Bundesinnenministerium (mit 50.000 Mark – „in kleinen Scheinen“ kommentierte ein Spötter) engagieren, so erschreckend ist der Umstand, daß sich der Rundfunk aus seiner Verantwortung zurückziehen will, bereit wäre, ein Musterbeispiel gelungener Kulturarbeit – ja, nicht nur abzugeben, sondern kalt lächelnd aufzugeben.

Gemurmel spontaner Anteilnahme

Neue Musik ist essentiell auf den Rundfunk angewiesen. Alle Neue- Musik-Festivals von Bedeutung wurden vom Rundfunk initiiert und werden von ihm getragen. Neben Donaueschingen sind das die Wittener Tage für neue Kammermusik (WDR), Musik im 20. Jahrhundert (SR), Pro Musica Nova (Radio Bremen) und der Steirische Herbst (ORF). Die Rundfunkhäuser gewähren nicht allein durch Vergabe von Kompositionsaufträgen und durch Aufführung und Einspielung der Stücke die Grundlage für die Entstehung, sondern sorgen auch für die Verteilung. Die Konzerte verklingen nicht ungehört: Sie werden in Dutzenden von Sendungen bundesweit und in weitere dreißig Länder ausgestrahlt. Das heißt nichts anderes, als daß jeder, der Augen und Ohren aufhält, die Chance hat, an dem ästhetischen Diskurs teilzunehmen.

Es gibt in Donaueschingen immer wieder Versuche, über die eigene Domäne hinauszukommen. Nicolaus A. Hubers Orchesterstück „To ,Marilyn Sixpack‘“ bezieht sich nicht nur dem Titel, sondern auch dem Verfahren nach auf Andy Warhols allseits verbreitete Monroe-Drucke „The Six Marilyns“. Während bei Warhol ein Foto der Ikone ewiger Weiblichkeit die Grundlage für eine Reihe von Farb- und Formvarianten ist, legt Huber eine musikalische Vorlage zugrunde. Sein Stück eröffnet mit einem hohen Metallregister, das in mehrstufigen Modulationen zu einer weitgespreizten Tonhöhenlineatur ausgezogen wird. Analog zu Warhols Verfahren, die Farbflächen über die Ränder der Begrenzungslinien heraustreten zu lassen und Siebe mit deutlich sichtbarem, grobem Raster zu verwenden, setzt Huber in einem nächsten Schritt elektronische Klangfilter ein. So simuliert er diverse Lautsprechertypen, unterschiedlich in Qualität und Verzerrungsgraden, durch die das Orchesterstück wiedergegeben wird. Für die „Fanfarenversion“ gibt es kein direktes Vorbild bei Warhol, sie besteht aus einer „Zeitfaltung“, eine Komprimierung und Überlagerung von Teilen mit sich selbst. Ob Hubers Konzept, das musikalische Ausgangsmaterial durch verschiedene Verfahren umzudeuten, aufgeht, und ob die Lautsprecherfassungen der Orchestervorlage gleichberechtigt gegenüberstehen, war Gegenstand vieler Diskussionen im kleinen Kreis. In der Zeit zwischen den Konzerten, wo brühwarm oft mehr Empfindung als Einsicht, Informationen und Deutungen über die soeben gehörten Stücke ausgetauscht werden, fließen Wissen und Vermutung ineinander, ganz ähnlich dem Marktplatz vergangener Zeiten. Diese fokussierende Kraft ist der springende Punkt der Donaueschinger Musiktage: Sie sind Börse, Parlament, Messe und – in homöopathischer Dosis – Jahrmarkt in einem. Hier treffen sich die Meinungsführer und Multiplikatoren, die Veranstalter, Kritiker, Händler und Hörer, um zu einer Selbstverständigung zu kommen.

So, nicht durch einsames Urteil, entsteht aus dem Gemurmel spontaner Anteilnahme Musikgeschichte. Die Donaueschinger Musiktage gehören zu den letzten Refugien des öffentlichen Experiments. Das Ergebnis ist immer ungewiß, und man tut gut daran, die stets im Werden begriffene Neue Musik als Forschung zu betrachten. Allerdings eine, die coram populo, vor dem Volke, stattfindet.