Champagner und Samba für Rio 2004

Rio im Olympiafieber: Sportbegeisterte Cariocas, intensives Strandleben und die verführerische Silhouette der Stadt sollen die IOC-Prüfungskommission für Rio positiv einnehmen  ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange

Ob der kleine Samba im größten Fußballstadion der Welt wohl bei ihm eine Gänsehaut verursacht? Luiz Barbosa, Vorsitzender des „Komitees Rio 2004“, zerbricht sich den Kopf darüber, wie er den anscheinend unzugänglichen Deutschen Thomas Bach, Chef der Prüfungskommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), für Rio de Janeiro gewinnen kann. „Samba ja, aber keine barbusigen Frauen“, garantiert Barbosa. Rio gibt sich seriös. Schließlich gehört die brasilianische Tourismusmetropole zu den elf Städten, die sich um den Sitz der Olympischen Spiele im Jahr 2004 bewerben. Statt auf den Charme freizügiger Tänzerinnen setzt die Stadt neuerdings auf ihre natürlichen Schönheiten wie Zuckerhut und Copacabana sowie auf das sportliche Potential ihrer sechs Millionen Einwohner, genannt Cariocas.

Natürlich schließt dies nicht aus, daß die Cariocas auch ihre Musikalität unter Beweis stellen. Wenn Bach zusammen mit seiner fünfzehnköpfigen Delegation das „Maracaná“ auf seine Olympia- Tauglichkeit hin untersucht, brechen sich in dem Riesenstadion die Schallwellen einheimischer Karnevalsrhythmen. Das Trommelfeuer stammt vom Nachwuchs der Sambaschule „Mangueira“. Barbosa hofft, daß der Funke überspringt. „Mehr ist nicht drin“, weiß er. Das Programm der IOC-Delegation, die sich vom 21. bis 25. November an der Copacabana aufhält, beschränkt sich ausschließlich auf die Besichtigung der sechs verschiedenen Olympia-Sportzentren in der Stadt. Theoretisch. Denn die Brasilianer sind entschlossen, das starre Programm so aufzulockern, daß Delegationsleiter Bach von selbst den Wunsch verspürt, Rio näher kennenzulernen.

Der hochkarätige Besuch wird Rios Unterwelt schwer zu schaffen machen. Ausgerechnet die abgelegene Halbinsel Ponta de Catalao in der Bucht von Guanabara soll sich zum Freizeitpark der Athleten mausern. Bis vor kurzem diente das idyllische Eiland in der Bucht nachts als Umschlagplatz für den illegalen Waffenhandel. Drogenhändler kauften Verbindungsmännern dort in getarnten Fischerbooten tonnenweise Kriegsmaterial ab. Auftragskiller ließen Leichen am Ufer für immer verschwinden, und Wracks gestohlener Autos versanken auf dem Meeresgrund. Tagsüber besetzten die Einwohner aus dem benachbarten Elendsviertel Favela da Mare die Halbinsel und badeten in dem fäkalienverseuchten Buchtwasser.

Doch seit ein paar Tagen ist die Insel für die Öffentlichkeit gesperrt und wird rund um die Uhr bewacht. „Die Copacabana der Armen“ wird ästhetisch getrimmt. Der Trampelpfad der Wochenendausflügler wird asphaltiert, morsche Bäume entwurzelt, das meterhohe Unkraut geschnitten und die Müllberge abtransportiert. Brasiliens Sportminister, Fußballkönig Pelé, pflanzte dort kürzlich einen der insgesamt 40.000 Setzlinge des einheimischen Brasilholzes „Pau Brasil“. „Es ist ein Wahnsinnsaufwand, die Leute abzuwimmeln“, protzt Wachmann Leandro Buarque. Mit Revolver und Maschinengewehr durchforstet er das verwilderte Territorium nach unliebsamen Besuchern.

Das trügerische Südseeparadies fasziniert den Wächter. „Ist das nicht einmalig? Im Jahr 2004 kann man in der Bucht bestimmt wieder baden“, versichert er. Der Freizeitpark ist Bestandteil des geplanten Olympiadorfes für die Athleten. „Man sieht alle Wahrzeichen Rios auf einen Blick“, schwärmt Luiz Barbosa: „Corcovado, Zuckerhut, den Nationalpark ,Floresta da Tijuca‘, die Brücke nach Niteroi und den ,Zeigefinger Gottes‘“.

Per Unterschrift haben bereits 1,2 Millionen Cariocas für Rio 2004 plädiert. Das Geschäft mit den künftigen Athleten hat begonnen. „Wir können mehr, als wir in Atlanta gezeigt haben!“ feuert Carlos Arthur Nuzman sein betuchtes Publikum in einem Fünf- Sterne-Hotel an der Copacabana an. Triumphale Musik schießt aus den leistungsstarken Lautsprecherboxen, auf einer riesigen Leinwand läuft ein Video ab, das Brasiliens Olympiasieger mit Glückstränen und Medaillen zeigt. Nuzman, Vorsitzender des brasilianischen Olympia-Komitees (COB), hat die Crème de la crème der einheimischen Unternehmer zu Lachs und Kaviar zusammengetrommelt. An den Erfolg brasilianischer Athleten, die in Atlanta 15 Medaillen holten, wollen sich viele Firmen dranhängen. Nuzman, der in den vergangenen zehn Jahren Volleyball in Brasilien zur Sportart Nummer zwei nach dem Selbstläufer Fußball machte, genießt in Sport- und Unternehmerkreisen große Glaubwürdigkeit. „In Sydney werden wir die doppelte Anzahl von Medaillen holen“, versichert er.

Das sportliche Potential, auf das die Sponsoren mit Champagner anstoßen, schlummert indes in Rios unzähligen Holzverschlägen, die an den grünen Hügeln kleben. „Die Armen sind für alles gut“, spottet Leichtathlet Robson da Silva. „Für Höchstleistungssport, für Schwerstarbeit, für Samba, Sex und Karneval.“ Der 34jährige, der für Brasilien in Atlanta eine Bronzemedaille in der 4x100-Meter- Staffel holte, verweist darauf, daß in seiner Sparte sämtliche Kollegen aus armen Verhältnissen stammen. „Reiche brauchen keinen Leistungssport zu betreiben, höchstens Jet- Ski“, entfährt es ihm während des vornehmen Mittagessens für die Sponsoren. „Sie müssen sich nicht nach oben kämpfen.“

Genau darauf kommt es für die sportbegeisterten Kinder aus dem Elendsviertel Mangueira an. Die gleichnamige traditionelle Sambaschule der Favela ist die einzige in Rio de Janeiro, die Sporttalente außerhalb des Fußballs umsonst fördert. „Normalerweise beginnt die Auslese beim Eintritt in einen Sportklub“, erklärt Francisco de Carvalho, Leiter der Sportabteilung von „Mangueira“. „Kinder aus der Favela können weder den monatlichen Mitgliedsbeitrag noch das Geld für die Sportkleidung aufbringen.“ Mit Hilfe der US-Firma Xerox entwickelte der Ingenieur 1987 ein Projekt zur Förderung von Breitensport mit dem Schwerpunkt Leichtathletik in der Favela.

Mittlerweile ist das Sportprojekt zur „Nation Mangueira“ herangewachsen. Zum rosa-grün gestrichenen Olympiadorf gehört eine Ganztagsschule mit einem 50-Meter-Schwimmbecken, eine hervorragend ausgerüstete Krankenstation und eine Berufsschule. All dies untersteht der Aufsicht der traditionellen Sambaschule, die außerdem den musikalischen Nachwuchs der Favela für die Rhythmusgruppe oder zum Vortanzen rekrutiert. Bei Projektleiter Francisco de Carvalho stapeln sich die Pokale: Vierfacher brasilianischer Jugendmeister für Leichtathletik, Bronze bei den Kinder-Basketballmeisterschaften und, höchste Auszeichnung, ein Preis von Fußballkönig Pelé für die sozialen Verdienste.

In der Favela mit knapp 50.000 Einwohnern fließt das Abwasser unter freiem Himmel den Hügel herab. Im „heißen Loch“, wo die ganz Armen wohnen, besteht das Dach über dem Kopf aus schwarzen Plastikplanen. „Was fehlt, ist ein Sportplatz in der Favela, der eine Brücke zum „Olympia-Zentrum auf der anderen Straßenseite schlagen könnte“, meint Ubiracy de Oliveira, der Chef der Rhythmusgruppe. Den Traum vom Sport als sozialem Trampolin hat er ausgeträumt. „Das Projekt ist gut. Doch es fördert nur den Sport, es bekämpft nicht die Ursachen der Armut.“

Die Kinder, die in dem schmucken Olympiadorf von Mangueira trainieren, wollen nur ungern mit der gleichnamigen Favela in Verbindung gebracht werden. „Unter den Spitzensportlern kann man die Kinder aus Mangueira an einer Hand abzählen“, meint Aline Roberta Ernesto Campeiro abschätzig. Die 16jährige wohnt nicht in der Favela. Aufgrund ihrer herausragenden Leistungen bekommt sie ein Stipendium, um sich ausschließlich der Vorbereitung für die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Sydney widmen zu können. „Die Leute kommen aus ganz Rio, weil Mangueira über die besten Trainer und die besten Sportplätze verfügt“, erklärt sie.

Tamara Rodrigues, Jugendmeisterin im Hürdenlauf, ist ihrer ärmlichen Heimat zumindest geistig entrückt. „Am liebsten wäre ich Fotomodell und Spitzensportlerin zugleich“, schwärmt die 15jährige Bewohnerin von Mangueira, die ebenfalls für die Teilnahme an den Spielen in Sydney trainiert.

Der romantische Fluchtweg aus der Armut ist gar nicht so abwegig: Als erste Freiwillige für die Kampagne „Rio 2004“ erschien die Hürdenläuferin aus der Favela Mangueira bereits mehrmals auf den Titelseiten brasilianischer Zeitungen. Selbstverständlich würde sie auch liebend gerne die neue Tartanbahn im Olympiadorf von Mangueira einweihen.

Tamara Rodrigues weiß, daß sie eine Ausnahme ist. Nur drei Mädchen aus iher Klasse trainieren im Olympiadorf von Mangueira kontinuierlich in der Volleyballmannschaft. „Die Mehrheit hat keine Lust, sich für eine fragwürdige Sportlerkarriere abzuschwitzen“, meint sie. Die Jungens machten schnelles Geld mit Drogenhandel, und die Mädchen würden häufig wegen unerwarteter Schwangerschaften gar nicht erst richtig mit einem konsequenten Training anfangen. Daß die rigorose Disziplin im Olympiadorf vielen Kindern aus der Favela Probleme bereitet, ist Projektleiter Francisco de Carvalho, genannt „Chiquinho“, wohl bewußt. Alle 1.200 Kinder, die zur Zeit im Olympiadorf Sport treiben, müssen nachweisen, daß sie zur Schule gehen und über einen Notendurchschnitt von mindestens „ausreichend“ verfügen. Gerade die Kinder aus armen Familien jedoch werden von ihren Eltern häufig gezwungen, die Schule vorzeitig zu verlassen, um Geld zu verdienen.

Trotz aller Schwierigkeiten liegt das Olympiadorf beim Tauziehen zwischen Disziplin und Drogenhandel in der Favela Mangueira eindeutig im Vorteil. „Mangueira ist in ganz Rio de Janeiro das Viertel mit der geringsten Jugendkriminalität“, bescheinigt Jugendrichter Siro Darlan de Oliveira. Statt mit Maschinengewehren und Panzern die Delinquenz zu bekämpfen, sollten alle Armenviertel über solche Sportanlagen verfügen, um der Kriminalität vorzubeugen, schlägt der Richter vor. Brasiliens Sportminister Pelé griff diese Idee auf. Als Minister ist der Fußballkönig seit einem Jahr damit beschäftigt, in ganz Brasilien Sportkomplexe in vernachlässigten Regionen anzulegen.

Brasiliens Sportler des Jahrhunderts ist der einflußreichste Fürsprecher Rios beim Wettkampf um die Ausrichtung der Olympischen Spiele. „Die Stadt mit ihrem sonnigen Klima und ihrer weitläufigen Natur ist wie geschaffen für Olympia“, versichert er begeistert. Ob IOCler Thomas Bach wohl unberührt bleibt vom Charisma des Fußballkönigs? In seiner Funktion als Sportminister erwartet Pelé die IOC-Delegation am Flughafen und wird sie während ihres fünftägigen Aufenthaltes nicht aus den Augen lassen. Luiz Barbosa vom Komitee „Rio 2004“ hofft, daß der „Mythos Pelé“ die IOC-Mitglieder beeinflußt. „Wenn es zu einem Patt zwischen Kapstadt und Rom kommen sollte“, kommentiert Barbosa die jüngsten Gerüchte über die angeblichen Favoriten, „könnte Rio der lachende Dritte sein.“