In Zaire ist eine Viertelmillion Menschen auf der Flucht. Immer mehr Hutu-Flüchtlinge aus Ruanda und Burundi verlassen ihre Lager - aus Angst vor den Kämpfen, die sich zairische Militärs mit einheimischen und ausländischen Tutsi-Gruppen lie

In Zaire ist eine Viertelmillion Menschen auf der Flucht. Immer mehr Hutu-Flüchtlinge aus Ruanda und Burundi verlassen ihre Lager – aus Angst vor den Kämpfen, die sich zairische Militärs mit einheimischen und ausländischen Tutsi-Gruppen liefern

Massenflucht aus Flüchtlingslagern

Im Osten Zaires sind inzwischen fast 250.000 Hutu auf der Flucht. Aus Angst vor den schweren Kämpfen, die sich seit Tagen die zairische Armee mit Banyamulenge-Rebellen bei Uvira in der Provinz Südkivu liefert, und aus Angst vor den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen zairischen Soldaten und ruandischen Kämpfern nahe den Flüchtlingslagern bei Goma in der Provinz Nordkivu. Die Banyamulenge gehören zum Volk der Tutsi, die sich gegen die angekündigte Vertreibung durch die zairische Regierung zur Wehr setzen. In den Lagern bei Goma leben seit 1994 viele Angehörigen der Hutu-Milizen, die für den Genozid an Tutsi in Ruanda verantwortlich waren.

UN-Flüchtlingshochkommissarin Sadako Ogata warnte am Dienstag vor einer neuen „humanitären Katastrophe“ in der Region. Hunderttausenden Flüchtlingen drohe eine Hungersnot. Die Versorgungslage der Hutu-Flüchtlinge, die ihre zwölf Flüchtlingslager um die umkämpfte Stadt Uvira im Südkivu verlassen haben, sei katastrophal. An die 50.000 seien bisher vollkommen erschöpft bis in das nördlich gelegene Bukavu durchgekommen. Viele sind in die umliegenden Wälder nahe Uvira geflüchtet, wo sie kaum Nahrung finden. Auch Tausende Zairer sind vor den Auseinandersetzungen geflohen. Zudem sind mittlerweise fast alle internationalen Helfer aus der Region evakuiert.

Eine ähnliche Lage entwickelt sich im nördlicher gelegenen Goma, wo über 700.000 Flüchtlinge in mehreren Lagern leben. Aus informierten Kreisen in Ruanda verlautete, daß in allen Camps bei Goma in den letzten Tagen gekämpft worden sei. Wer hier genau wen bekämpft, wurde nicht bekannt. Spekuliert wird, daß ruandische Kämpfer beteiligt waren.

Der zairische Ministerpräsident Kengo Wa Dondo beschuldigte am Dienstag Ruanda und Burundi, Zaire mit der Unterstützung der Banyamulenge destabilisieren zu wollen. Einem UN-Beobachter zufolge sind ruandische Kämpfer nach Zaire eingedrungen. Auf einer Pressekonferenz gestern in der Hauptstadt Kigali wies die ruandische Führung die Vorwürfe zurück; Zaire suche nur einen Sündenbock für innenpolitische Probleme. UN-Generalsekretär Butros Ghali schloß eine militärische Intervention der UN nach einer Sitzung des Sicherheitsrates aus.

Ein Auslöser der jetzigen Krise war das Ultimatum des Gouverneurs von Südkivu an die Tutsi- Gruppe der Banyamulenge, sie hätten Zaire innerhalb einer Woche zu verlassen. Vorausgegangen waren wochenlange Spannungen zwischen den Banyamulenge und der zairischen Armee. Soldaten hatten Tutsi aus ihrern Dörfern vertrieben und sie geplündert. Die Banyamulenge-Guerillas – die Tutsi-Gruppe lebt seit 200 Jahren in Zaire – wehrten sich. Krankenstationen, in welchen Hutu versorgt wurden, sollen von den Banyamulenge angegriffen worden sein. Auch für eine Attacke auf ein Lager, die die jetzige Fluchtwelle ausgelöst hat, wurden sie zunächst verantwortlich gemacht. Ein Mitarbeiter der Ärzte ohne Grenzen, der aus Uvira evakuiert wurde, sagte gestern allerdings, eine Gruppe von Tutsi aus den Nachbarländern hätte die Angriffe ausgeführt.

Die Ursache für den Konflikt zwischen Zaire und den Banyamulenge geht auf eine Begebenheit vor einigen Jahren zurück. Den Banyamulenge wurde, wie anderen Tutsi-Minderheiten auch, 1982 die zairische Staatsbürgerschaft aberkannt. Das führte immer wieder zu Spannungen zwischen den zairischen Behörden und der Tutsi-Gruppe. Vor allem aber hat der Massenexodus der ruandischen Hutu nach Ostzaire die Region zum Pulverfaß gemacht. Mit den Flüchtlingen kamen auch die gesamte ruandische Armee und die für den Völkermord an den ruandischen Tutsi verantwortlichen Hutu-Milizen über die Grenze.

Die zairische Armee schloß mit den ruandischen Hutu-Milizen Zweckbündnisse gegen die Tutsi- Minderheiten. So geschehen im Nordkivu, wo fast alle Tutsi aus der Region Masisi im Frühjahr nach Ruanda vertrieben wurden. Der Gouverneur von Nordkivu hatte die Tutsi zunächst aufgefordert, das Land zu verlassen. Zairische Soldaten initiierten dann zusammen mit Hutu-Milizen die Vertreibung. Den Tutsi wurde an der ruandischen Grenze die Pässe abgenommen. Die Vertreibung der Banyamulenge sollte jetzt nach gleichem Muster verlaufen. Die jedoch wehren sich vehement.

Zaires Vertreibungsstrategie hat neben der ethnischen Komponente vor allem eine politische: Die Gouverneure der Provinzen Zaires sind allesamt von Präsident Mobutu Sese Seko ernannt. Er hätte jeweils intervenieren können. Statt dessen duldete er die Pogrome oder schürte sie in manchen Fällen sogar – mit dem Einsatz seiner Garde. Und das nicht ohne Grund. Denn die Vertriebenen zählen zu den Oppositionsgruppen im Lande. Anfang der 90er Jahre war die zairische Opposition noch geeint in ihrem Widerstand gegen das Mobutu-Regime. Heute ist sie zersplittert und zerreibt sich in ethnischen Spannungen. Mobutus Interesse an der Destabilisierung des eigenen Landes hängt dabei mit den für 1997 geplanten Wahlen zusammen. Mobutu ist seit 31 Jahren an der Macht. Unter Bedingungen wie in Zaires Osten sind Wahlen nicht durchführbar.

Die Hutu-Milizen in- und außerhalb der Lager haben nicht nur die Stimmung in Zaire vergiftet – sie sind mitverantwortlich auch für die eisige Atmosphäre zwischen Ruanda und Zaire. Ihre Trainingslager werden von der zairischen Führung seit 1994 geduldet. Nachts gehen sie über die Grenze nach Ruanda, sabotieren und morden. Ob im Gegenzug die Banyamulenge-Rebellen von Ruanda finanziert werden, ist „nicht auszuschließen“, sagte ein Diplomat in Ruanda. Krieg zwischen Zaire und Ruanda ist nicht ohne weiteres auszuschließen. Schon Ende September schossen ruandische und zairische Militärs aufeinander. Kinshasa zwangsrekrutiert derzeit Jugendliche, und auch die ruandischen Militärs sind in Alarmbereitschaft versetzt.

Die Lage wird sich nicht ändern, solange die Hutu-Flüchtlinge nicht zurück in ihr Land können. Doch solange die Hutu-Milizen ihre Landsleute in den Lagern gegen die neue ruandische Tutsi-Führung aufhetzen, kehrt kein Mensch zurück. Und genau das heizt die Situation immer mehr auf. Daniel Stroux