Eine Schwangerschaft bringt die Dreigroschenoper in Gefahr

■ Marlies Reinhold soll nach 20 Uhr nicht schauspielern dürfen, weil die zuständige Beamtin mit dem Mutterschutz argumentiert

Berlin (taz) – Heute abend, 22 Uhr: Die letzten Klänge der Dreigroschenoper verhallen im Zuschauerraum des Braunschweiger Staatstheaters. Der Vorhang fällt, das Publikum applaudiert. Nur eine einzelne Dame wird ein ernstes Gesicht machen. Sie hat keinen Eintritt bezahlt, für den Kaffee in der Pause kann sie eine Spesenrechnung verlangen, und wegen Mecki Messer ist sie auch nicht hier. Sie klatscht nicht, denn das würde ihr Meßergebnis verfälschen. Die Dame heißt Tränkler, kommt vom Gewerbeaufsichtsamt Braunschweig und mißt mit ihrem handtaschengroßen Gerät Schallwellen, die Pauken, Trompeten und Schlußapplaus heute abend auf den Bauch der Schauspielerin Marlies Reinhold einprasseln lassen.

Die ist nämlich in der 17. Woche schwanger. Und deswegen ist für sie nach 20 Uhr ab jetzt jede Art von Erwerbstätigkeit tabu. Sagt das Gewerbeaufsichtsamt und stützt sich dabei auf das Mutterschutzgesetz Paragraph 8, Absatz 3, Ziffer 3. Danach darf eine werdende Mutter nach dem vierten Monat ab 20 Uhr nicht mehr arbeiten. Das hat seinen Grund: Der Gesetzgeber dachte dabei an „Mehrarbeit“, wie er in dem Paragraphen einleitend bemerkt. Wie das aber im Theater so ist, liegt der wesentliche Teil der Arbeit nunmal nach dieser Uhrzeit. Aber selbst wenn es sich tatsächlich um Mehrarbeit handeln würde, wäre der Paragraph nicht unüberwindbar. Für Härtefälle gibt es eine Ausnahmeregelung, beispielsweise zum „Melken von Vieh“ (Absatz 2). Ob die angewandt wird oder nicht, liegt im Ermessensspielraum der zuständigen Beamtin, richtig: Frau Tränkler.

Die macht sich offenbar ernsthaft Sorgen um das ungeborene Kind von Frau Reinhold und lehnt die Ausnahmegenehmigung bisher ab. Dafür will sie – „hab' ich mir gestern überlegt“ – mit Hilfe der Schallmessungen herausfinden, ob das Stück, in dem Frau Reinhold eine Uhr darstellt, sich nicht bewegt und auch nicht singt, nach 20 Uhr für das Kind gesundheitsschädlich ist.

Hält Frau Tränkler den Daumen nach unten, ist vorerst Schluß mit der Dreigroschenoper, einem Handke-Stück und Peer Gynt. Die Stücke werden nämlich dummerweise erst nach 20 Uhr aufgeführt. Davor darf Marlies Reinhold dagegen weiter Doppelvorstellungen geben, im Kinderprogramm zweimal täglich morgens und mittags Puuh, den Bären, spielen, ohne daß sich irgend ein Amt einmischt – aber das ist ja auch nur ein kleines Kinderschauspiel. Clemens Heidel