Die Playboys für Elendsvoyeuristen

■ Diskussionsrunde: Obdachlosenzeitungen suchen nach ihrem Selbstverständnis

Die Sache ist nicht ganz einfach. Was ist eine Obdachlosenzeitung, was will sie, wer sie darf machen, wer vertreiben? Der hauptstädtische Strassenfeger versteht sich als klassische Obdachlosenzeitung. Als eine, an der Obdachlose redaktionell mitarbeiten, die sich an Obdachlose wendet, natürlich nicht nur, und die von Obdachlosen verkauft wird. Biss aus München dagegen will eine Straßenzeitung sein, gemacht von Nichtobdachlosen (der journalistischen Qualität wegen), das Zielpublikum ist die breite Masse. Vertrieben freilich wird Biss in der Münchner City von Obdachlosen. Strassenfeger und Biss sind zwei typische Beispiele für die Situation der Obdachlosen- beziehungsweise Straßenzeitungen in Deutschland. Gut 30 gibt es derzeit, alle inhaltlich sowie von ihrem Selbstverständnis her verschieden. Am Wochenende trafen sich ihre Macher in Berlin zu einem Erfahrungsaustausch.

Stefan Schneider vom Verein OMB (Obdachlose machen mobil e.V.), seit zwei Monaten beim Strassenfeger, hält mit der Kritik nicht hinterm Berg: „Ich habe das Gefühl, daß sich bei den Obdachlosenzeitungen Leute breitmachen, die im journalistischen oder sozialen Bereich nicht weiterkommen.“ Er spricht von Leuten, die diese sozialen Projekte „bewußt abzocken“, und davon, daß Obdachlosenzeitungen oftmals nur noch Etikettenschwindel sind. „Sie werden lediglich von Obdachlosen vertrieben.“ Ihre Macher, das seien ganz andere Leute.

Der Berliner Strassenfeger. Gut 10.000 Auflage, 1.000 Mark Redaktionsbudget pro Ausgabe, 20 Stammverkäufer, vier Leute, die das Redaktionsteam bilden, der jeweilige Schlußredakteur verdient nicht mehr als 600 Mark, es gibt keine Hierarchie. Einmal in der Woche wird im Rahmen einer „Schreibwerkstatt“ über Inhalte diskutiert – mit den Verkäufern, also mit den Obdachlosen selbst. Mit der Rubrik „Autoren zum Anfassen“, so Karsten Krampitz, sei gewährleistet, daß die Betroffenen regelmäßig zu Wort kommen. Zielgruppe der Zeitung seien die Obdachlosen (Krampitz: „abgehobenes intellektuelles Geschreibe nutzt nichts“) und die ganz normale Bevölkerung. Anliegen ist es, „denjenigen eine Stimme zu geben, die sonst nicht zu Wort kommen und die Öffentlichkeit für die Themen Obdachlosigkeit und Armut zu sensibilisieren“. Daß die Gefahr bestehe, schnell zu einem „Playboy für Elendsvoyeuristen“ zu werden, weiß Karsten Krampitz. „Wir müssen aufpassen, da viele Leute von den Themen einfach übersättigt sind.“

Drei Obdachlosenzeitungen konkurrieren in Berlin: Strassenfeger, Motz und Platte. Die Konkurrenz untereinander ist hart, aber, sagt Karsten Krampitz, sie belebe das Geschäft. „In keiner anderen Stadt haben die Obdachlosen so viele Sprachrohre wie in Berlin.“ Was die drei Blätter unterscheide, seien die Inhalte. Der Strassenfeger wolle durchaus politische Inhalte rüberbringen, wolle radikal und schonungslos sein. „Das Endziel aber ist, uns überflüssig zu machen“, so Karsten Krampitz. Jens Rübsam