Schlangenbeschwörung im Zirkus Bosnien

■ Roberto Ciulli inszeniert ein prophetisches Stück des kroatischen Autors Slobodan Snajder, „Die Schlangenhaut“, mit dem Theater an der Ruhr in Mülheim

Am Anfang war das Schweigen. Eine junge, schwarz gekleidete Frau kommt auf die Bühne, wartet, bis das Publikum sich beruhigt, wartet bis der letzte sich zurückgerückt hat, wartet auf den letzten Huster, bereitet sich zum Sprechen vor, holt Atem, bricht ab, wartet: ein schauspielerisches Virtuosenstückchen, ein Spiel mit dem Nichts, das einen schmunzeln machen könnte, wäre nicht der gefaßte Ernst in der Haltung der Schauspielerin. Endlich beginnt sie zu sprechen. Sie berichtet, in den gesetzten Worten Slobodan Snajders und im Ton einer feierlichen Ansprache – von ihrer Vergewaltigung. Das Grinsen gefriert dem Publikum im Gesicht.

So auf dem Grat zwischen Humor und Pathos balancierend, beginnt Roberto Ciullis Inszenierung von Slobodan Snajders Bosnien- Stück „Die Schlangenhaut“. Ciulli war es, der den kroatischen Autor in Deutschland bekannt gemacht hatte durch seine Inszenierung von Snajders prophetischem, obwohl historischem Stück „Der Kroatische Faust“. Das war vor acht Jahren. Schon da bekam das deutsche Publikum durch den Hinweis auf die wechselseitigen Massaker von Kroaten und Serben während des Zweiten Weltkrieges eine Ahnung von dem Konfliktpotential, das im damaligen Jugoslawien noch schlummerte.

Das Stück verdankt schon als Text offensichtlich viel der Theaterästhetik Ciullis. Es ist voller religiöser Bilder, mythologischer Anspielungen, ikonographischer Bezüge. Sein Thema ist plakativ: Was geschieht mit den durch Vergewaltigung gezeugten Kindern bosnischer Frauen? Es will aber sich nicht an der Reduktion der Wirklichkeit auf ein Freund-Feind- Schema beteiligen. Es will mindestens ebenso komplex sein wie der Krieg selbst. Die Deutlichkeit dieser Absicht führt zur Undeutlichkeit aller anderen Absichten.

Die Mülheimer Inszenierung beginnt mit Improvisationen über die Themen Patriarchat, Religion und Geschäft. Adam stopft Eva den Apfel, den sie ihm gerade gegeben hat, in den Mund, bis sie erbricht. Eine Schauspielerin hüpft über die Bühne, rückt sich ihre Unterhose zurecht und brüllt wie irre: „Das Loch muß gestopft werden.“ Die Männer spielen Golf.

Ciulli bringt das Kunststück fertig, in das Symboldickicht des Textes noch weitere Assoziationsbündel einzupflanzen und dennoch für Durchblick zu sorgen. Bei ihm spielt das Geschehen um die vergewaltigte Muslimin Asra in einer Zirkusarena. In diesen Kreis, der eigentlich der Keller eines Krankenhauses in Bosnien sein soll, wird die hochschwangere Asra (Simone Thoma) auf einer Schubkarre geschoben. Hier trifft sie ihre Gefährten Marta (Karin Neuhäuser) und Hassan (Ferhadae Fequ) und gebiert ihren Sohn, die Schlange (Thorsten Krohn). Hier laufen viele Dialoge als Zirkusnummer ab: am Seil und auf dem Trapez, da gibt es Feuerschlucker, Clowns, den Einmarsch der Raubtiere und vor allem: die zersägte Jungfrau. So willkürlich diese Verfremdung auf den ersten Blick scheint, sie ist jeweils aus dem Inhalt der Szene entwickelt und gibt insgesamt dem Abend jene Mischung von unpassendem Humor, absichtsvoller Theatralik und risikofreudiger Kunst, die das überfrachtete Stück ansehbar macht.

So blicken wir in die Arena Bosnien als Zuschauer von unerhörten Ereignissen und beginnen zu verstehen, wie Vergewaltigung im Krieg nicht natürliche Folge männlicher Sexualität, sondern eine Kriegstaktik ist, kriegerische Kommunikation zwischen Männern verfeindeter patriarchalischer Gesellschaften. Das Ziel der Vergewaltigung im Krieg ist die Zerstörung der Identität einer Frau und der Kultur eines Volkes. Asra will ihren Sohn, von dem sie träumt, er sei eine Schlange, nicht haben und ersehnt ihn doch. Die Zukunft Bosniens ist vergiftet, und doch wird sie kommen. In einer der eindringlichsten Szenen des Abends denkt Marta sich eine feministische Utopie aus, ein Matriarchat ohne Krieg und Männer, in dem die Frauen ersatzweise die Bäume umarmen. Das ist nichts, woran man glauben könnte, eher eine irre Flucht in die Phantasie, sie sagt es sich vor wie ein selbst ausgedachtes Kindermärchen, spinnt so vor sich hin, immer leiser. So gelingt es, trotz der Überfülle an Bildern deutlich zu bleiben. Das schlechthin Böse wird anerkannt, ohne es zu rechtfertigen.

Das Ende des Stückes ist bei Snajder ein Symbolgewitter von erheblicher Heftigkeit, mit Wolfsgeheul, nebligem multikulturellem Friedhof und einer in die offene Ferne entschwindenden Frau. Ciulli macht es kurz. Asra kommt zu ihrem erwachsenen Sohn in ein Militärlager. Eine vergewaltigte Frau hängt bewußtlos über ein Seil zurückgebeugt. Asra umarmt ihr Schlangenkind, zieht die Pistole und dann: Schuß, Schluß, aus. Gerhard Preußer

Slobodan Snajder: „Die Schlangenhaut“. Theater an der Ruhr, Mülheim/Ruhr (Ringlokschuppen). Inszenierung: Roberto Ciulli. Weitere Vorstellungen: 2., 9., 23. 11.