Eurotunnel-Aktionäre saufen ab

Immer mehr Leute reisen im Kanaltunnel. Dennoch entwickelt er sich zur Katastrophe für Aktionäre und für Angestellte  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Vom „Geschäft des Jahrhunderts“ zum Ruin des Jahrhunderts in weniger als zehn Jahren: So läßt sich die kurze Geschichte des Kanaltunnels zusammenfassen – vor allem für die strukturschwache nordfranzösische Küstenregion und die Hunderttausende von düpierten Kleinaktionären in Frankreich.

Jüngstes Beispiel ist die Entscheidung der Gesellschaft Eurotunnel, jeden fünften Arbeitsplatz zu streichen. Bloß die 225 Gläubigerbanken können sich ins Fäustchen lachen: Sie haben in monatelangen Umschuldungsverhandlungen erreicht, daß die 50 Unterwasserkilometer zwischen Frankreich und der britischen Insel Anfang des nächsten Jahrhunderts mit einer dünneren Personaldecke wirtschaftlicher arbeiten und vor allem, daß sie mehrheitlich ihnen gehören werden.

Für den kommunistischen Bürgermeister von Calais, Jean- Jacques Barthe, ist mit den 657 bevorstehenden Entlassungen, davon 351 auf französischer Seite, die Katastrophe perfekt. Sein 75.000-Einwohner-Städtchen mit gegenwärtig knapp 20 Prozent Arbeitslosigkeit ist in mehrfacher Hinsicht zum Opfer des Kanaltunnels geworden. Während sich früher zahlreiche Großbritannien- Fahrer im Hafen von Calais, dem ersten Passagierhafen Frankreichs, einschifften, geht jetzt ein stetig wachsender Anteil des Inselverkehrs unter die Erde.

Anfang des Monats bereits gaben angesichts der erstarkenden Konkurrenz die beiden großen Fährgesellschaften „P&O“ und „Stena Line“ ihre Fusion bekannt. 1.000 der 5.500 Arbeitsplätze werden gestrichen. Alternative Arbeitsplätze sind in der Region nirgends in Sicht.

Ebenfalls Anfang Oktober mußten die insgesamt 750.000 Kleinaktionäre von Eurotunnel, davon 600.000 Franzosen, einen neuerlichen Tiefschlag hinnehmen. Viele waren bar jeder Börsenerfahrung in den Eurotunnel eingestiegen, weil in Frankreich sowohl die Banken als auch die Regierung sie glauben gemacht hatten, das Geschäft sei so risikofrei und sicher wie Sparbücher. „Kauft Volksaktien für die Jahrhundertbaustelle“, lautete die Devise.

1987 konnten die Kleinaktionäre erste Anteile für je 35 Franc (10,60 Mark) erwerben. Als der Kurs unablässig anstieg und 1989 über 96 Franc erreichte, verfielen viele in Börsenfieber, verkauften ihr sonstiges Hab und Gut und setzten es in Eurotunnelaktien um. Heute, da der Kurs bei lächerlichen sieben Franc dümpelt, sind diese Kleinaktionäre ruiniert. Das Ergebnis der siebenmonatigen Umschuldungsverhandlungen zwischen Eurotunnel und den Gläubigerbanken gibt ihnen jetzt den Rest.

Die Gesellschaft Eurotunnel, die seit September 1995 keine Zinsen mehr für ihre 70 Milliarden Franc (21 Milliarden Mark) Bankschulden zahlte, bewilligte ihren Gläubigern am 7. Oktober einen schrittweisen und ausgesprochen günstigen Einstieg in die Aktien: 38 Milliarden Franc – mehr als die Hälfte der Schulden – werden teils sofort, teils Anfang des nächsten Jahrtausends in Aktien umgewandelt, die extra für die Banken neu aufgelegt und zum Preis von 10,40 Franc (3,20 Mark) verschleudert werden.

Die Kleinaktionäre haben das Nachsehen, denn erstens treibt die massenhafte Neuausgabe von Aktien deren Kurs weiter nach unten, zweitens sinken ihre ohnehin gedämpften Dividendenerwartungen weiter, und drittens werden ihnen die Banken auf diese Art bis Anfang des nächsten Jahrtausends die Mehrheit in der Aktiengesellschaft genommen haben.

Ein paar tausend französische Kleinaktionäre, die sich in der militanten Betroffenenvereinigungen „ADACTE“ zusammengetan haben, wollen das Vorhaben von Eurotunnel und Banken bei der nächsten Aktionärsversammlung im Frühjahr blockieren. Lieber als eine Übergabe ihres „Jahrhundertgeschäfts“ in die Hände der Banken wäre ihnen noch eine Konkursanmeldung.

Kurioserweise läuft der Verkehr im Eurotunnel ungeachtet der überirdischen Turbulenzen immer besser. Das Fahrgastaufkommen verdoppelte sich zwischen dem ersten Halbjahr 1995 und 96, der Umsatz stieg im selben Zeitraum sogar von 0,8 auf 1,8 Milliarden Franc, und für das kommenden Jahr wird sogar ein weiterer 50prozentiger Umsatzzuwachs erwartet. Die massiven Entlassungen begründet die Gesellschaft Eurotunnel mit „Anpassungen“ und „Unstrukturierungsmaßnahmen“, die außerdem Einsparungen bei dem Energieverbrauch und dem Materialkauf vorsähen. Nach Angaben einer Firmensprecherin stehen diese Einsparungen in direktem Zusammenhang mit dem Umschuldungsprogramm zugunsten der Banken.

Ab Ende 1997 werden nur noch 2.800 Personen für Eurotunnel arbeiten. Die Gewerkschaften, die erst in dieser Woche über die Einsparungen informiert wurden, wollen versuchen, die Entlassungen vor allem auf externe Bereiche – Berater, Subunternehmen und Aushilfen – zu beschränken, um so die Stellen von Festangestellten zu retten. Die Unternehmensleitung hingegen, die bereits seit Jahresanfang an dem aktuellen „Umstrukturierungsprogramm“ arbeitet, will nicht ausschließen, daß es auch nach 1998 noch weitere Entlassungen in dem „Jahrhundertgeschäft“ geben wird.