„Hier käme nicht mal Gott klar“

Am Sonntag finden in Rumänien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Auf dem Land, wo die Mehrheit der Rumänen lebt und die Armut am größten ist, hofft niemand auf Besserung  ■ Aus Lehliu Keno Verseck

Der Baragan ist eine eigentümliche, rauhe Gegend. Im Winter fegt hier der Crivaţ über die endlose, unbewaldete Ebene, ein eisiger Nordostwind, der ins Gesicht schneidet. Im Sommer verbrennt die Sonne unerbittlich die Felder. Mäßiges Wetter ist selten. So war es auch in diesem Jahr. Auf vielen Feldern steht der Mais nur halbhoch und sieht aus wie vertrocknet. Der Weizen ist nicht vertrocknet, sondern wegen des harten Winters erfroren.

Einst war die südostrumänische Baragan-Ebene eine dünnbesiedelte Steppe. Heute wechseln die traditionellen Lehmhütten in den Dörfern ab mit riesigen Silos und verkommenen Fabriken, mit eleganten neuen Gebäuden der Staats- und Landwirtschaftsbanken, deren Fassaden polierter Marmor ziert. Und immer wieder Maisfelder, bis an den Horizont.

Lehliu, 70 Kilometer östlich von der Hauptstadt Bukarest, ist mit siebentausend Einwohnern einer der größeren Orte im Baragan. Die Hauptstraße, die einzig richtig asphaltierte, verbindet Bukarest mit der Schwarzmeer-Stadt Konstantza. Der Überlandverkehr wälzt sich schwerfällig durch den Ort, ungeduldige Fahrer hupen maisbeladene Pferdewagen aus dem Weg. An der Straße stehen Dutzende kleiner Läden, Restaurants und Kneipen, die am Transitverkehr verdienen. Früher gab es eine Konfektionsfabrik mit 1.500 Arbeitsplätzen, die jetzt wegen fehlender Aufträge stilliegt.

Vor dem Bahnhofsgebäude kniet ein alter Mann. Sein grauer Anzug ist zerschlissen und schmutzig, sein weißes Haar, sein weißer Bart sind lang gewachsen. Er kniet da auf den Steinen, niedergebeugt, und ißt von einem Laib Brot. Dicht vor ihm steht ein Hund und starrt auf das Brot. Während der Alte kaut, reißt er Stücke aus dem Laib und wirft sie dem Hund zu. Der schluckt sie gierig und schwanzwedelnd herunter. Lächelnd nickt ihm der alte Mann zu.

Etwas weiter verkauft eine Frau Strohbesen und Seife, Eimer, Schüsseln, Bonbons und Kekse. An ihre kleine Blechbaracke hat sie zwei Wahlplakate gehängt. Auf dem einen steht: „Für den Wechsel zum Guten!“ Das andere zeigt einen Mann in der Pose des Führers. Das eine Plakat wirbt für den größten Oppositionsverband, den „Rumänischen Demokratischen Konvent“, das andere für die „Großrumänien-Partei“. Der Widerspruch könnte nicht größer sein: Der christlich-demokratisch orientierte Konvent, ein Verband von Oppositionsparteien, tritt für eine Demokratisierung Rumäniens ein, für die Integration in die Europäische Union und die Nato. Außerdem will der Konvent umfangreiche Wirtschafts- und Sozialreformen durchführen und gegen Korruption kämpfen. Die Großrumänien-Partei dagegen ist ein Sammelbecken für Ceaușescu-Nostalgiker, Ultranationalisten, Antisemiten und Ex-Securitate-Offiziere. Sie würden am liebsten wieder zur Diktatur zurückkehren und vertreten eine wüste, verworrene Ideologie – halb faschistisch, halb national-stalinistisch.

Die Frau hat weder Parteiprogramme gelesen, noch weiß sie, was die Kandidaten versprechen. Und eigentlich, sagt sie, vertraue sie sowieso niemandem. Vor ein paar Wochen kamen Konvents- und Groß-Rumänien-Vertreter mit den Plakaten, und die Frau hängte sie eben auf. Für wen sie stimmen will? „Die einen sagen so, die anderen so. Was wissen wir schon? Ich besprech' mich noch mit meinem Mann, und dann sehen wir mal. Wer mehr gibt!“

Als die Rede auf den Noch- Staatspräsidenten Ion Iliescu kommt, schlägt ihr Ton vom Jovialen um ins Bittere. „Das Brot kostet jetzt fünfhundert, das Öl viertausend der Liter. Warum hat er die Teuerung zugelassen? Von welchem Geld soll ich jetzt einkaufen? Warum hat er uns nicht Traktoren auf Kredit gegeben, damit wir unsere Felder bearbeiten können? Früher hast du jemand ein paar Scheine zugesteckt und bekamst ein Stück Wurst. Heute gehst du mit zehntausend Lei auf den Markt und kannst fast nichts dafür kaufen. Früher kamen wir ohne Boden besser klar. Jetzt haben wir ihn in Pacht gegeben, damit wir unsere Schulden bezahlen können.“

Ähnlich klagen fast alle, die in Rumänien auf dem Land leben. Und dort leben mehr als die Hälfte der 23 Millionen Einwohner. Die Landwirtschaft ist wichtigster Erwerbszweig, vor der Industrie und weit vor dem Dienstleistungsgewerbe. Der wichtigste Erwerbszweig aber ist auch der vernachlässigste der rumänischen Wirtschaft. Nach dem Sturz Ceaușescus im Dezember 1989 wurden die LPGs aufgelöst. Viele Bauern erhielten Land, maximal fünf Hektar, was für eine Familie zum Leben nicht ausreicht. Mit der Landverteilung erschöpften sich die Maßnahmen auch schon. Es ist das Muster rumänischer Landwirtschaftspolitik seit mehr als hundert Jahren.

Die meisten Bauern arbeiten mit Pferd und Wagen. Sie können sich weder Maschinen leisten, noch bekommen sie Kredite. Private Genossenschaften werden kaum gefördert. Die Ausrüstungen der staatlichen Maschinen- und Traktorenstationen sind veraltet, größtenteils unbrauchbar. Hinzu kommt die traditionelle Unterentwicklung der ländlichen Gebiete: Die meisten Dörfer haben bis heute nur schlechte Straßen, kein fließendes Wasser, keine Gasleitungen, sind nicht ans Telefonnetz angeschlossen, in manchen Regionen nicht einmal elektrifiziert. Es gibt in den Dörfern meistens nur eine Schule mit vier Klassen, nur einen Lehrer und einen ambulanten Kreisarzt. Busse fahren nur zweimal am Tag in den nächstgrößeren Ort.

Der Baragan, eines der größten Anbaugebiete Rumäniens, ist ein Inbegriff des Bauernelends und der Brutalitäten. Während des Bauernaufstandes 1907, der letzten großen Erhebung dieser Art in Europa, schoß die Armee hier ganze Dörfer kurzerhand zusammen. Die Mehrheit der Bauern war nur mit Heugabeln bewaffnet. Einige tausend Menschen kamen ums Leben. Während der Zwangskollektivierung in den fünfziger Jahren rückten Parteifunktionäre zusammen mit Securitate-Einsatztruppen in die Dörfer ein. Wer nicht in die LPG eintreten wollte, wurde verhaftet, mißhandelt, erschossen. Nach 1989 kam es in einigen Orten wieder zu Revolten: Wütende Bauern stürmten die Gebäude der Dorfbehörden und forderten Maschinen und Saatgut.

Geändert hat sich seitdem nicht viel. Vier Bauern, die in Lehliu mit ihren Familien eine kleine Genossenschaft gegründet haben, sind verzweifelt. Schon über fünfzig Jahre bekommen sie alle eine Genossenschaftsrente. Damit bezahlten sie im letzten Jahr Saatgut für Mais, Sonnenblumen und Weizen. Den Mais verbrauchen sie selbst, die Sonnenblumen-Ernte haben sie vor Wochen beim staatlichen Aufkäufer abgeliefert und warten seitdem auf das Geld. Ihr Weizen ist im Frühjahr erfroren. Sie haben die in diesem Fall vorgesehene gesetzliche Entschädigung beantragt. Auch darauf warten sie noch. Sie wissen nicht, woher sie das Geld für neues Saatgut nehmen sollen. Spätestens in ein paar Wochen muß der Boden gepflügt und die Herbstaussaat beendet sein. Zur Zeit gibt es keinen Diesel. Ihr Traktor steht nutzlos auf dem Feld.

„Früher gab es viele Unannehmlichkeiten, aber wenigstens war es organisiert“, sagt der eine. „Heute sind wir ruiniert. Wenn ich so sehe, wie viele Schweinereien in diesem Land geschehen, mit den großen Banken, mit der Korruption... Alle benutzen sie unser Geld, das Geld der einfachen Leute. In den Zeitungen lesen wir diese Versprechen, daß wir Kredite bekommen sollen, aber die kommen bei uns nicht an. Was sollen wir noch glauben? Die einen machen über Nacht große Geschäfte auf, und wir werden überhaupt nicht beachtet. Ich glaube, hier im Baragan käme nicht mal Gott klar.“

Die regierende „Partei der sozialen Demokratie“ und Staatspräsident Ion Iliescu versprechen in ihrem Wahlprogramm unter der Losung „Wiedergeburt des rumänischen Dorfes“ höhere Genossenschaftsrenten, zinsgünstige Kredite, Steurnachlässe, einen Ausbau der ländlichen Infrastruktur. Ähnlich lautet das Programm des „Demokratischen Konvents“. Die vier Männer glauben weder der Regierungspartei noch dem Oppositionsverband. Für wen sie stimmen sollen, wissen sie nicht. „Es gibt da ein Sprichwort der Alten“, sagt der eine. „Gott gab dem Holz Geduld, aber das Holz zersplitterte. Dann gab er den Steinen Geduld, aber die zersprangen. Und da gab er dem Menschen Geduld, und der Mensch krepierte nicht. Er litt nur und schwieg. So sagen die Alten. Aber bei uns ist die Geduld bald zu Ende.“

Nicht einmal die Jugend glaubt daran, daß sich die Lage verbessern wird. Das jedenfalls meint Violeta, eine junge Frau, die in einem der Läden an der Straße arbeitet. Im Fenster hängt ein Wahlplakat des „Demokratischen Konvents“. Aber das hat ihr Chef angebracht. Sie selbst schenkt keiner Partei Vertrauen und will auch nicht zur Wahl zu gehen.

Violeta ist 25 Jahre alt, verheiratet, hat ein Kind und verkauft von 7 Uhr früh bis 8 Uhr abends Süßigkeiten, Getränke und Zigaretten. Sieben Tage in der Woche. Ihr Chef bezahlt ihr dafür 200.000 Lei im Monat, etwa 80 Mark. Urlaub gibt es nicht. Mit dem Gehalt ihres Mannes, der als Ingenieur in der Kreisstadt Calarași arbeitet, kommen sie gerade so aus. Manchmal vertritt ihr Mann sie, damit sie einen Tag mit dem Kind verbringen kann. Violeta bedient die Kunden freundlich, scherzt mit ihnen. Sie lächelt sogar, als sie von ihren Schwierigkeiten erzählt. Um glücklich zu sein, würde sie sich etwas mehr Geld, mehr Zeit für ihr Kind, eine eigene Wohnung wünschen. Aber sie glaubt nicht, daß ihr Traum vom Glück so bald in Erfüllung geht. „Ich bin zufrieden“, sagt sie, „daß ich keine schwere Feldarbeit machen muß.“

Gegenüber dem Laden hat eine Jahrmarktstruppe auf einem Platz ihre Wagen und zwei Karussells aufgestellt. Aus Lautsprechern dröhnt Techno-Musik. Die Basstrommel peitscht monoton. In einem Wohnwagen ist der „Zoo mit wilden, exotischen Tieren“ untergebracht, wie es der Einlasser nennt, ein Mann mit aufgequollenem Gesicht und lauernden Augen. In vier Käfigen leben zwei kleine Affen, zwei Papageien und drei Riesenschlangen. Der Wächter schläft. Ein Mann, der mit seinem Sohn gekommen ist, will die Affen mit Zuckerwatte füttern. Sie beachten ihn nicht. Der eine sitzt apathisch auf einem Ast, der andere schabt mit einem Stöckchen an der hinteren Käfigwand. Der Mann schlägt gegen den Käfig und schreit auf die Affen ein. Schließlich wirft er die Zuckerwatte in den Käfig und zerrt an seinem Sohn: „Los, laß uns abhauen!“