Zeige deine Narbe

Warhol hätte es gemocht: David Cronenberg hat in „Crash“ einen Liebhaberkreis von Unfallfetischisten zu einem mechanischen Ballett bei Nacht und Nebel versammelt  ■ Von Mariam Niroumand

Der Skandal, den Picassos großes Hurengemälde der „Demoiselles d'Avignon“ 1907 in den Pariser Salons hervorrief, bezog sich nicht nur auf sein Sujet, sondern vor allem auf die bizarre Kälte der Darstellung, die den Zeitgenossen im Umgang mit Sex nicht angemessen schien. Statt eines süffisanten Kurtisanendramas präsentierte sich den Betrachtern hier eine Phalanx zerlegter Körper mit wilden, afrikanisch-eckigen Gesichtern. Nur wenige Jahre später baute Marcel Duchamp an seinem „Großen Glas“, der Junggesellenmaschine, deren voller Name, „Die Braut selbst, von ihren Junggesellen nackt entblößt“, dem mechanischen Ballett ein gewisses Oh-là-là verschaffte. Max Ernst und Francis Picabia nannten ihre Geräte „Frau Wirtin an der Lahn“ oder „Elle“ – mit anderen Worten: Die „Herrschaft der Mechanisierung“ war plötzlich erotisch aufgeladen, während zugleich dem Sex eine maschinelle Funktionsweise zugeschrieben wurde.

In ihrem Buch „Hard Core“, einer bei Stroemfeld erschienenen Geschichte der Pornographie, behauptet Linda Williams, es sei nur ein kleiner Schritt von der „akademischen Frage nach der Mechanik von Körperbewegungen bis zur pornographischen Antwort“ gewesen. Und daß gerade dieses Wechselspiel die Entstehung des Kinos nicht zuletzt aus Edward Muybridges Bewegungsstudien an nackten Männern und Frauen geradezu herausgekitzelt habe.

Daß der kanadische Regisseur David Cronenberg seit nunmehr dreißig (!) Jahren an dieser Themengeschwulst herumdoktert, ist bekannt. Leicht angewidert hantieren seine Protagonisten mit gynäkologischen Instrumenten, Plastikersatzteilen oder Telekopplern am weiblichen Geschlecht herum, das indes sein unheimliches Wesen weiter treibt und gezielt zurückzuschlagen versteht – und sei es durch Abwesenheit. M. Butterfly, die den Helden seines letzten Films in eine transkoloniale Liebestragödie verwickelte, entpuppte sich gar als Monsieur.

Mit „Crash“, der Verfilmung des „Kultromans“ von James G. Ballard, hat Cronenberg den Weg durch die Filmgeschichte zurück zu ihren Anfängen angetreten: von den „Problempornos“ der siebziger Jahre über die Jugendrebellionsfilme der Fünfziger bis hin zu Buster Keaton und schließlich den frühen Kurzfilmen, in denen die Sensation des Mechanischen gefeiert wurde; etwas wie die Einfahrt eines Zugs in den Bahnhof oder die Innereien einer Fabrik...

Schon der Anfang des Films entzweite das Premierenpublikum in Cannes, das sich über keinen anderen Wettbewerbsbeitrag so uneins war wie über Cronenbergs „Crash“. In einer Flugzeughalle wird ein Porno gedreht, die Hauptdarstellerin Catherine Ballard (Deborah Unger) leckt das kalte Metall eines Sportflugzeugs, während ein gesichtslos bleibender Liebhaber sie besteigt. Ihr Mann James (James Spader) schläft derweilen in einem Nebenraum mit der Cutterin. Kurze Zeit später verliert er auf der Autobahn die Kontrolle über sein Fahrzeug und prallt frontal mit einem anderen Wagen zusammen, in dem ein Ehepaar sitzt. Der Mann überlebt den Unfall nicht, die Frau (Holly Hunter) trägt nur leichte Verletzungen davon. Sie heißt Dr. Helen Remington, ein Dada-Name, der schon vorab nach Stahl oder jedenfalls nach Schreibmaschine klingt.

Die beiden begegnen sich im Krankenhaus wieder, wo sie einen gewissen, eindrucksvoll vernarbten Vaughan (Elias Koteas) kennenlernen, dessen Rolle zunächst nicht ganz klar wird. Er fotografiert ihre Narben, Schienen und Pflaster – ist er „Wissenschaftler“, Versicherungsagent, Unfallfotograf?

Wochen später treffen sich Helen und James an ihren beiden Autowracks, die irgendwo außerhalb der Stadt in einem Parkhaus stehen. Mit leisen Stimmen sprechen sie über den Verkehr: „Dreimal so dicht wie an dem Tag des Unfalls“, „achtmal so so dicht wie neulich am Montag“, „höchstens ein Drittel von Donnerstag abend“; es klingt wie Telefonsex, und schon lieben sie sich auf dem Fahrersitz.

Helen führt James und später auch seine Frau in einen Kreis von Leuten, die unter Anleitung dieses vernarbten Vaughan nachts die Unfälle von James Dean oder Jayne Mansfield nachstellen, den Polizeifunk abhören und dann zu Unfallorten auf der Autobahn fahren, wo sie wie zärtliche Gespenster den Verletzten über die Stirn streichen. Warhol hätte es gemocht. Vaughan entwickelt sich zu einer Art Erlöserfigur, einem Messias des Auffahrunfalls. Auf den Rücksitzen, über die Kotflügel gebeugt, vor Unfallvideos auf der Couch befummeln und besteigen sie einander, in immer neuen Kombinationen ihrer Wunschmaschinen. Zeige deine Narbe!

Man mag es oder man mag es nicht. Die Sache hat einen subtilen Reiz, den jeder kennt, der mal mehrere Nächte hindurch Auto gefahren ist. Im Lauf der Zeit verschwindet die Farbe aus der Welt, aus dem Radio sprechen nur noch Irre oder Sentimentale, und zu jedem Nachbarauto, jeder dieser Black Boxen, die da vorbeifahren, in denen man undeutlich ein Gesicht erkennt, hat man sich eine Geschichte überlegt. Ein Unfall würde alles mit einem Schlag ändern. Man wäre plötzlich wildfremden Menschen zentimeternah; Angst, Schrecken oder Glück würden einen mit ihnen ewig verbinden, unter Umgehung des ganzen anstrengenden Prozedere, das sonst mit den entsprechenden Wünschen verbunden ist.

In „Crash“ sprechen alle leise, der Schaum der Waschanlage läuft zögerlich über die Windschutzscheibe, die Musik von Howard Shore spült einem die immer gleichen drei Halbtöne ins Ohr, und die Stadt ist kalt und blaugrau. Das Serielle der Sexszenen – James mit Helen, Vaughan mit Helen, James mit Vaughan, Gespräch über James und Vaughan zwischen James und Catherine im Bett – lullt einen ein wie ein endloses Musical, in dem ja schließlich auch die Handlung den Nummern Platz macht.

Cronenberg, den sie zu Hause „Dave Deprave“ nennen, hat sich in Cannes nicht ungeschickt gegen den Vorwurf gewehrt, sein Film sei kalt wie die Demoiselles d'Avignon: „Einer Komödie hätten Sie das nicht vorgeworfen, wenn der Sex mechanisch gewesen wäre, das nimmt man nur dem Drama übel!“ Dabei scheint es, als habe gerade die pornographische Form, gerade die Mechanisierung Cronenberg aus der öden Angeekeltheit der letzten Jahre befreit: Immer neue Begegnungen sind möglich, gerade weil Maschinen im Spiel sind, immer größerer Genuß und schließlich sogar eine Art Liebe.

„Crash“. Regie: David Cronenberg. Nach einer Buchvorlage von James G. Ballard. Mit James Spader, Elias Koteas, Holly Hunter, Deborah Unger. Kanada, 1996