■ Mögliche Orte
: Ein Lob der Zwischennutzung

Es ist höchste Zeit, eine Spezies von Orten zu würdigen, die akut vom Aussterben bedroht ist: die Stadtbrache. Überall werden Orte aus Nicht-Orten gemacht. Von denen gab es nirgends mehr als in Berlin. Verwoben mit den belebten Verkehrsadern der Stadt, dämmerte eine ganze Infrastruktur der Funktionslosigkeit vor sich hin. Und das in Deutschland, wo doch, so dachte man, auf jedem Quadratmeter ein Spekulant sitzt.

Man konnte es, neu in Berlin, kaum fassen. Zu Hause in „Westdeutschland“ hatte man schon angesichts eines verwunschenen Hinterhofes in die Hände geklatscht. Hier fand man gleich einen verwunschenen Bahnhof, einen nicht befahrenen S-Bahn- Ring, ein schlafendes Gleisdreieck, zwanzig Brücken über die Yorckstraße und einen Humboldthafen, in den kaum je ein Schiff einlief, später den ungenutzten Mauerstreifen. Dort stand man im Sand und träumte – von was eigentlich? Auch auf den Fotos, die man machte, um der ratlosen Faszination Ausdruck zu verleihen, war es nicht zu sehen. Sie bestätigten nur Wim Wenders Diktum „Wellblech kommt gut auf Schwarzweiß.“

Neben den spektakulären Brachen, neben Potsdamer Platz und Platz der Republik, war und ist Berlin voll von leeren Flächen. Sie saugen Zeit und Energie ab. Man muß sie durchqueren, um sie herumlaufen, sie schaffen Durststrecken auf dem Weg zu den richtigen Orten, sie verdünnen die Stadt. Außer Sand in den Augen und einem weiten Himmel bieten sie wenig. Allenfalls kann man hier überprüfen, ob sich Plastiktüten unter UV-Strahlung tatsächlich in nichts auflösen – wenn sie nicht vorher weggeweht werden.

Andererseits sind sie die schönsten Projektionsflächen, sind Wunschmaschinen und die wahren möglichen Orte. Als ich noch in Moabit wohnte, galt ihnen alle meine Hoffnung: Würde doch hier endlich das Leben einziehen, das dem muffigen Stadtteil bislang fehlte! Voller Zuversicht begrüßte ich die Bautafeln, aufmerksam begutachtete ich die Fortschritte, die die Gebäude machten. Standen die Häuser dann endlich, passierte meist aber gar nichts. So bin ich woanders hingezogen.

Vor dem Nachwende-Bauboom machten sich auf diesen Flächen niedrige Formen der Architektur und Ökonomie breit. Die Rostlaube und der „Auto-Imbiß“ am Klingelhöfer-Dreieck, die sich an Gründerzeithäuser anschmiegende Videothek in der Uhland- Ecke Berliner Straße und die Souvenir-Baracken neben der Aussichtsplattform am Potsdamer Platz. Sie wirkten und wirken stets so deplaziert, wie sie nah am Leben gebaut waren. Dabei erinnerten sie an amerikanische Stadtränder, wo ja auch die obskursten Businesses ihre kleine Existenz führen: freies Unternehmertum, dem Tauschhandel näher als irgendeinem Kapitalismus.

Am Gleisdreieck und am Moabiter Werder bildeten zwielichtige Lackierereien, Import-Export-Klitschen und Sondermüll- Unternehmen ganze fremde Städte in unserer Stadt, in die man selten oder nie einen Fuß setzte.

Am häufigsten aber fanden die Baulücken Verwendung als Gebrauchtwagenmärkte, die mit ihren glitzernden Girlanden und Lichterketten Volksfest-Atmosphäre herbeizitieren. Tatsächlich hat der Gebrauchtwagenmarkt etwas vom Autoscooter, und auch Probefahren ist ein beliebtes Sonntagsvergnügen. Wenn sich diese Kleinstunternehmen verziehen, wartet oft noch eine kurze Periode der Zweitnutzung auf die Baracken: So erging es zum Beispiel der Autowerkstatt am Anhalter Bahnhof, die als Plantation-Club eine zweite, schönere Jugend feiert, oder der Ruine in der Nähe des Pfefferbergs, die als Unterstand und Kuschelecke für die auf dem leeren Grundstück stattfindenden Lagerfeuer-Raves dient. So schmerzlich der Abriß auch sein wird, so sehr heizt die Vorläufigkeit die Stimmung an.

Mittlerweile erwartet der Moabiter Werder besenrein die Baumaschinen. So weit war man auch am Stadion der Weltjugend. Vorläufig wird dort „Volxgolf“ gespielt.

Den langen Weg bis zum Bau begleiten interessante Phänomene auf dem Bauerwartungsland. Bilder des Projekts werden aufgestellt und verrotten, ohne daß ein Spatenstich getan wurde. Oder sie werden sang- und klanglos wieder abgebaut wie die große Tafel in der Nähe des ehemaligen Reichstages, die das Deutsche Historische Museum ankündigte, bis man es Unter den Linden schon gebaut vorfand. Wälder werden – wie auf dem Lenné-Dreieck – gerodet, wachsen nach und fallen ein zweites Mal. Und dem Endlosstreit um das Denkmal für die ermordeten Juden hat man mittels eines erklärungslos die Steppe zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz einfriedenden Bauzauns schon ein preiswertes und sinnfälliges Metadenkmal gestiftet.

Sogar Archäologen treten bisweilen auf den Plan. Sie hatten vor Jahren schon den Keller der Gestapo-Zentrale ausgegraben, jetzt wurde auch der ganz ähnlich aussehende Keller des Stadtschlosses auf dem Platz vor dem Palast der Republik entdeckt. Doch während man sich hier rührig bemüht, Verlorenes zu retten, rollte man gegenüber, wo letztes Jahr das Außenministerium „zurückgebaut“ wurde, einen Rasen von so gierigem Grün aus, daß binnen kurzem die letzten Spuren des DDR-Baus unter ihm aufgesaugt sein werden. Vielleicht kommt dann die Bauakademie.

So scheinen überall die Provisorien festen Bestimmungen zu weichen, Ewigkeiten sich auszubreiten, wo man alle paar Jahre etwas Neues oder eben ein verträumtes Nichts erleben konnte. Doch die Sorge ist wohl unbegründet. Nicht nur die Info-Box, ausgerechnet das schönste Gebäude am Potsdamer Platz, ist auf Zeit gebaut. Auch das durchschnittliche Bürohaus etwa eines Kleihues hat nur vorläufigen Charakter. Die Wettbewerbe und Genehmigungsprozeduren täuschen Auseinandersetzungen wie beim Kathedralenbau vor. Doch hochgezogen werden die Häuser wie Bierzelte. Richtfeste und andere Riten haben ihre symbolische Bedeutung längst eingebüßt und leben, siehe das jüngste Kranballett, als originelle Mieterwerbung weiter.

Meistens laufen unten längst die Computer, während oben noch das Dach fehlt. Und der polierte Granit der Fassaden – bei debis am Potsdamer Platz ist gerade eine Musterschau zu sehen – unterscheidet sich nicht wesentlich vom Klinker-Imitat mit Fischernetz in der Pizzeria. In Japan baut man Bürohäuser schon längst für den baldigen Verbrauch. Doch auch in Berlin wird alles, was nutzlos wurde oder tot blieb, fast so leicht abzureißen sein wie die Imbißbude gegenüber der Info-Box, die dort schon heute mühelos für das von Experten beschworene „Leben“ sorgt. Und selbst wenn alles stehenbleibt: an Platz wird es in Berlin kaum einmal mangeln. Es lebe die ewige Zwischennutzung! Jörg Häntzschel