„Kinder des Olymp“ vaterlos

■ Der französische Regisseur Marcel Carné ist gestern gestorben. In den 30er Jahren feierte er seine größten Erfolge

Berlin (taz) – Der französische Regisseur Marcel Carné, einer der Altmeister des europäischen Films, ist gestern im Alter von 90 Jahren in Paris gestorben. Der Filmemacher wurde 1906 im Montmartre-Viertel geboren. Er arbeitete als Kritiker und als Assistent von René Clair, bevor er eigene Filme drehen konnte.

Sein berühmtester Film, „Kinder des Olymp“ („Les Enfants du Paradis“, 1945), hat sich in der Epoche der Programmkinos zu einem Dauerhit und Kultfilm entwickelt. Die tragische Liebesgeschichte zwischen der schönen Garance (gespielt von der Arletty) und dem Harlekin-Pantomimen Debureau (Jean-Louis Barrault) aus dem Paris um die Mitte des 19. Jahrhunderts war ein Renner beim alternativen Publikum, was wohl auch mit dessen Hang zu Kitschfiguren wie dem „traurigen Clown“ zu tun hatte, die von Barrault bis zum letzten ausgereizt wurde. Was der älteren Genration „Doktor Schiwago“, waren dem Publikum der siebziger Jahre die „Kinder des Olymp“ – ach, wenn die Liebenden sich am Ende in der Karnevalsmenge verlieren und wechselweise „Garence!“ und „Batiste!“ rufen – vergebens, vergebens.

„Kinder des Olymp“, noch unter der deutschen Besatzung in den Jahren 1943–1945 gedreht, wurde gleich nach der Befreiung der erste Box-Office-Hit des französischen Nachkriegskinos. Um so erstaunlicher, daß Carné und sein Autor Jacques Prévert danach nie wieder an ihren Triumph anzuschließen vermochten. Die Generation, die Ende der fünfziger Jahre das Autorenkino begründete, schätzte Carné zwar noch, konnte an seinen Stil aber nicht mehr anschließen, denn Carné war bei aller Eigenwilligkeit kein Autor, sondern ein Mann des Studios und des Teamworks.

Seine besten Filme entstanden in den dreißiger Jahren: „Quai des brumes“ (1938) und „Le jour se lève“ (1939), in denen jeweils Jean Gabin die Rolle spielt, die ihm auf den Leib und vor allem aufs Gesicht geschrieben war: den „doomed lover“, den zum Untergang verdammten romantischen Helden, der gegen die Gesellschaft rebelliert, um seine Liebe und Würde zu behaupten. Das nannte man seinerzeit „poetischen Realismus“.

Marcel Carné war der Erfinder und Vollender dieser präexistentialistischen Filmkunst, die mit ihrer Betonung der Ausweglosigkeit und zugleich Unvermeidbarkeit der Revolte bald schon – der Krieg brauchte willige Soldaten – wegen „Defätismus“ verboten wurde. JL