„... nicht singen tauben Ohren“

Achtundfünfzig Jahre alt wurde der Obdachlose Eddy Vogt – jetzt trugen ihn Freunde mit einem Fackelzug zu Grabe. Im Himmel „ganz oben an der Tafel“  ■ Von Clemens Heidel

Harald wollte sich nicht an die Regeln halten. Immer wieder fiel er am Mittwoch abend dem Pfarrer sturzbesoffen ins Wort. „80 Grad minus, wer von Ihnen hat schon mal bei 80 Grad minus eine Nacht draußen verbracht?“ brüllt der heruntergekommene Mann die feineren Herrschaften in den hinteren Reihen der kleinen Friedhofskapelle St. Michael in Kreuzberg an.

Jedesmal unterbricht der Pfarrer peinlich berührt seine Grabrede für Eddy, in den letzten sechszehn Jahren Haralds Weggefährte durch die Obdachlosigkeit. Die dreißig Obdachlosen in den vorderen Reihen werden wütend, sie wollten doch eine ordentliche Gedenkfeier für ihren Freund. Die nicht obdachlosen Besucher blicken verschämt auf den Boden.

Nervös wenden sich die weißen Hauben der „Barmherzigen Schwestern Mutter Teresas“ hin und her. Dann springen zwei der Dienerinnen Gottes auf und versuchen Harald zu beruhigen – vergeblich. Heulend schwankt der Berber auf den Sarg zu, die Blicke der Gäste, das Schweigen des Pfarrers bemerkt er nicht mehr. Er reißt geräuschvoll das Papier von den mitgebrachten Blumen und wirft sie auf das grobe Fichtenholz, bevor ihn zwei Schwestern sanft aus der Kirche ziehen.

Aber auch der offizielle Teil der Totenfeier für den Nichtseßhaften Edgar Vogt, der vergangene Woche mit 58 Jahren gestorben ist, fand sich nicht mit den Regeln ab. Im Gegenteil, würden alle Priester so predigen wie Pfarrer Georg Schlüter, wäre die katholische Kirche wohl ein Fall für den Verfassungsschutz: „Befreie ihn, o Herr, von der Ungerechtigkeit, von den Unterschieden, von den Mauern der Gesellschaft!“ Und nach einer Schweigeminute sangen die Trauergäste in der nach Schnaps riechenden Kapelle: „Ihr Mächtigen, ich will nicht singen eurem tauben Ohr.“

Gestorben ist der 58jährige Eddy an Krebs. Er wußte es seit zwei Monaten, wollte sich aber nicht behandeln lassen. Warum, weiß niemand. Vielleicht hatte er einfach keine Lust mehr. Sein halbes Leben verbrachte Edgar Vogt auf der Straße, bis er vor zehn Jahren sein neues Zuhause gefunden hatte, die Suppenküche in der Kreuzberger Wrangelstraße. Der Nachruf, den seine Kumpel aus dem Wohnheim und die Schwestern in der Katholischen Kirchenzeitung veröffentlicht hatten, spricht für sich: „Seit über zehn Jahren kam er jeden Tag von seinem Wohnheim in Schöneberg zur Suppenküche von St. Marien- Liebfrauen in Kreuzberg und hatte dort seinen festen Stammplatz am Spültisch. Täglich wusch er zwischen 150 und 300 Teller, Plastikbecher, Gabeln, Messer und Löffel. Er schälte Kartoffeln, verlas Gemüse, kehrte den Hof und war immer fröhlich. Er unterstrich seine bescheidene Lebensart stets mit einem Schuß stärkender Flüssigkeit. Alle Obdachlosen, die nach Kreuzberg kommen, hatten Eddy zum Freund. Wir freuen uns, bekanntzugeben, daß Eddy jetzt seinen Platz gewechselt hat. Er sitzt beim himmlischen Hochzeitsmahl ganz oben an der Tafel, und nun sind die anderen dran, ihn zu bedienen.“

Eine abenteuerlich anzusehende Karawane zieht nach der Messe über den stockfinsteren Friedhof. Allen voran schreitet die aufrechte Gestalt des Pfarrers im weißen Talar. Hinter ihm schleppt sich ein humpelnder, sich gegenseitig stützender Haufen den matschigen Weg entlang. Der Nieselregen läßt die rund vierzig Fackeln knistern, die seine Freunde tragen. Kaputte Gesichter im Feuerschein. Überraschend erklingt eine Trompete aus dem Dunkel, schmettert das letzte Geleit und verhallt. Clemens Heidel