Ohne Laufkundschaft läuft nichts mehr

■ Für die kleinen Läden außerhalb der großen Einkaufsstraßen sind die neuen Ladenschlußzeiten eher Problem denn Chance. Aber auch die Großen warten ab

„Länger aufmachen? – Das klappt doch nur auf dem Ku'damm!“ klagt die Besitzerin eines Tante-Emma Ladens in einer Kreuzberger Seitenstraße unweit des Schlesischen Tors. „Zu mir kommen sowieso immer dieselben Kunden, die würden sich nur noch mehr über den Tag verteilen. Außerdem hab' ich Familie.“

Die türkische Familie mit ihrem Lebensmittelgeschäft auf der anderen Straßenseite hat flexibler auf die neuen Ladenschlußzeiten reagiert. Ein großes Schild verkündet zweisprachig die neuen Öffnungszeiten: Jeden Abend bis um acht, dafür gibt's jetzt vier Stunden Mittagspause. „Wie in Ankara“, sagt der 24jährige Sohn am Gemüsestand. Auch in anderen Bezirken sehen viele kleine und mittelgroße Geschäfte die Flexibilität als Chance. Vor allem die Dienstleister, zum Beispiel Reisebüros oder Copy-Shops, probieren neue Konzepte aus. In Mitte öffnen viele Friseurläden jetzt erst um zwölf Uhr mittags und arbeiten dafür ohne Pause bis um acht.

Zwar ist es noch zu früh, um sich ein endgültiges Bild über die Folgen der neuen Öffnungszeiten zu machen. Trotzdem sehen die meisten Kleinbetriebe nach den beiden ersten Tagen nur die großen Unternehmen auf der Gewinnerseite. Kaum einer von den Kleinen rechnet mit höheren Kundenzahlen, denn ohne Verkaufsflächen in Toplage gibt es kaum Laufkundschaft. Neue Kunden werden sich auch nach 18.30 Uhr selten in ihre Läden verirren. „Es können nur weniger werden“, prophezeit ein Schuhhändler in einer Neuköllner Nebenstraße. Er hofft nun, daß die Ketten nach dem Weihnachtsverkauf wieder zu den alten Öffnungszeiten zurückkehren.

Den Kleinen fehlt der lange Atem. Um mitzuhalten und den ganzen Tag aufzumachen, brauchten viele wenigstens einen neuen Angestellten, doch dafür reicht der Umsatz in der Regel nicht aus. Während sie zumindest zu Kompromissen gezwungen sind, reizen die großen Ketten, wie zum Beispiel Benetton, Hennes & Mauritz oder Bally, und die Kaufhäuser die neuen Öffnungszeiten voll aus. Aber auch in den Konzernzentralen rechnet in den nächsten Wochen noch niemand mit höheren Gewinnen. Wenn die Kaufhäuser, Ketten und Supermärkte neben ohnehin günstigeren Angeboten allerdings auch dauerhaft attraktivere Öffnungszeiten bieten, könnte sich das durchaus zu Lasten der Kleinbetriebe ändern. Die Manager hoffen, daß die Konsumenten nach einer Gewöhnungsphase auf die neue Freiheit nicht mehr verzichten wollen und in Zukunft verstärkt zum Feierabendeinkauf in die Haupteinkaufsstraßen oder die großen Einkaufszentren ziehen.

Nicht nur die Situation der Kleinunternehmer, auch die der Angestellten verschlechtert sich mit den neuen Öffnungszeiten. Da die meisten Unternehmen vorerst keine neuen Arbeitskräfte einstellen, ändern sich die Arbeitszeiten jetzt oft täglich.

Mit dieser zunehmenden Flexibilisierung sind vierzig Prozent der Angestellten einer Berliner Supermarktkette äußerst unzufrieden. Das ergab eine Studie des Soziologischen Instituts der Freien Universität Berlin. Ein geregeltes Familienleben und vorausgeplante Freizeitgestaltung seien für die VerkäuferInnen immer schwieriger zu verwirklichen. Clemens Heidel