Sehnsucht nach Sowjetzeiten

Mit halber Belegschaft schreibt der schwedische Eigentümer der Textilfabrik Kreenholm im estnischen Narva schwarze Zahlen  ■ Aus Narva Reinhard Wolff

„Wir haben Angst, die Arbeit zu verlieren“, schreit Swetlana Timenko mitten im Lärm Hunderter Spinnereimaschinen. „Diesmal war ich noch nicht dabei, aber vielleicht schon in ein paar Monaten. Niemand ist hier sicher!“ Swetlana Timenkos Besorgnis teilen rund 5.000 Angestellte, fast ausnahmslos Frauen, die noch übriggeblieben sind von den ehemals 11.000 im Textilkombinat Kreenholm in Narva. Europas größte Textilfabrik im nordöstlichen Estland, direkt am Grenzfluß zu Rußland, ist ein Labyrinth aus 116 Gebäuden, verteilt auf 80 Hektar: ein unwirtschaftliches Gebäudekonglomerat, ausgestattet mit altersschwachen und lebensgefährlichen Maschinen, von denen einige bald ihren hundertsten Geburtstag werden feiern können.

Zu Sowjetzeiten kamen die ArbeiterInnen von beiden Seiten des Narvaflusses. Heute sind es nur noch eine Handvoll, die täglich von Iwangorod herüberpendeln. Auch die Kundschaft lebt nicht mehr ausschließlich im Osten: Die 95 Prozent, die nicht im Baltikum selbst gebraucht werden, gehen in die USA und nach Westeuropa. Und das Sagen hat in Kreenholm nicht mehr eine staatliche Planbe- hörde, sondern die Manager der schwedischen Boras Wäfverier.

5.600 konnten bleiben, als der schwedische Textilkonzern im Dezember 1994 75 Prozent der Kreenholm-Aktien für knapp zwei Millionen Mark kaufte; den Rest behielt der Staat Estland. 600 weiteren wurde seither gekündigt. Und auch wenn Swetlana bei diesem Schub nicht dabei war – Anfang kommenden Jahres sollen weitere tausend gehen. Und nicht mal die verbleibenden 4.000 Arbeitskräfte haben eine Beschäftigungsgarantie, denn die hat Boras Wäfverier nur für 2.000 Arbeitsplätze übernommen. Und auch das nur bis Ende 1997.

Mit weniger als der Hälfte der Ursprungsbelegschaft produziert das „schwedische“ Kreenholm die gleiche gewaltige Menge von über 200 Millionen Meter Textilien pro Jahr, und dies von der ersten Stunde an mit schwarzen Zahlen. Die Löhne werden nach Leistung bezahlt. Für Swetlana Timenko sind dies 1.300 Kronen im Monat, weniger als 200 Mark. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung beläuft sich in Narva auf 900 Kronen. „Sie können sich selbst ausrechnen, was da übrigbleibt“, sagt sie. „Die meisten können jetzt nicht einmal mehr in der Kantine essen“, erzählt Julia Dimitrijewa, die Vorsitzende des Betriebsrates von Kreenholm, die froh wäre, könnten ihre KollegInnen wenigstens eine Anpassung der Löhne an die Inflationsrate erreichen.

Boras Wäfverier hat für Lärmschutz kein Geld

„Früher war dies ein sicherer Arbeitsplatz“, sehnt sich nicht nur Julia Dimitrijewa nach den Sowjetzeiten zurück. „Da konnte sich eine Kreenholm-Familie ein Auto kaufen, im Betriebsferienheim am Schwarzen Meer Urlaub machen, die Kinder im Betriebskindergarten unterbringen. All das ist vorbei, nur die Arbeitsverhältnisse sind die gleichen geblieben.“

Die bedeuten Staub, Lärm und einen dauernden Kampf mit den Baumwollflocken, die überall in der Fabrik umherfliegen, weil die auch nach der Reinigung sofort wieder verstopften Filter der Ventilation sie nicht beseitigen können. Die Luft ist heiß und trocken. Obwohl man sein eigenes Wort nicht versteht, trägt keine der Frauen einen Lärmschutz. Es ist so unbequem, sagen die einen. Es gibt keine, die Fabrik hat dafür kein Geld, behaupten andere. „Früher war ich allergisch, die Augen tränten, aber der Körper hat sich inzwischen daran gewöhnt“, schreit Swetlana und wedelt die Baumwollflocken von einer Maschine. „Früher“, das war, als sie 18 Jahre alt war, jetzt ist sie 42 und hat eine 18jährige Tochter. Soll die auch bei Kreenholm arbeiten, sich die Ohren und die Lunge ruinieren? „Wenn sie hier nur eine Arbeit bekäme, sie hat doch keine Wahl.“

Welche Pläne Boras Wäfverier für die Zukunft seines estnischen Werkes hat, macht Vorstandssprecher Mats Gabrielsson deutlich: „Heute produzieren acht bis zehn Esten soviel wie ein Angestellter in einer unserer schwedischen Fabriken. Unser Ziel ist es, die Effizienz auf westliches Niveau hochzuschrauben.“