Islands Vatnajökull läuft doch noch über

Flut aus Europas größtem Gletscher kommt drei Wochen nach Vulkanausbruch unter dem Eis in Gang  ■ Von Reinhard Wolff

Oslo (taz) – Einen Monat nach Ausbruch des Vulkans unter dem Vatnajökull-Gletscher auf Island hat am Dienstag die lang erwartete Gletscherflut begonnen. Der Skeidara-Fluß, der vom unterirdischen Gletschersee Grimvötn gespeist wird, stieg im Laufe des Tages stetig an, obwohl er angesichts der derzeit in Island herrschenden Temperaturen (-5 bis -20 Grad) auf einem extrem niedrigen Stand sein müßte. AugenzeugInnen konnten von einem deutlichen Schwefelgeruch des Wassers berichten und einer wachsenden Zahl von Eisschollen, die der über seine Ufer getretene Fluß Richtung Meer beförderte.

Die durch das Bett des Flusses Skeidara kommenden Wassermassen zerstörten wie erwartet sofort Teile der einzigen Straßenverbindung zwischen Ost- und Westisland und rissen bis gestern mittag schon die erste von vier großen Brücken im Überschwemmungsgebiet mit sich. Das Aufbrechen des Gletschers und das Freiwerden des Wassers geht nach ExpertInnenmeinung relativ „gemäßigt“ vor sich. Es wurde auf Island von daher mit einem stetigen Ansteigen des Wasserstands gerechnet in der Schwarzsandebene unterhalb des Gletschers. Den höchsten Wasserstand soll der Skeidara nach Einschätzung des Geophysikers Magnus Tumi Gudmundsson von der Universität Reykjavik am Donnerstag und Freitag haben.

Menschenleben sind durch die Gletscherflut bisher nicht in Gefahr, da in Ablaufrichtung des Schmelzwassers niemand lebt. Wissenschaftler rechneten damit, daß die immer schneller steigende Flutwelle bei ihrem Höhepunkt in wenigen Tagen bis zu 30.000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde mit sich führt. Eine solche Überschwemmung hatten die Anwohner in ähnlicher Form zuletzt 1938 erlebt. Die jetzt eingesetzte Flutwelle wird nach übereinstimmender Meinung aller Wissenschaftler wesentlich stärker werden und länger anhalten.

Der zehntägige Vulkanausbruch unter dem Vatnajökull hat nach ExpertInnenschätzungen zusätzlich drei Kubikkilometer Schmelzwasser in den Gletschersee unter dem Eis fließen lassen. Diese Mengen werden wohl in den nächsten Tagen ablaufen. Warum die erwartete Gletscherflut erst jetzt losgebrochen ist, wird in Reykjavik damit begründet, daß man trotz jahrzehntelanger Forschungen am Vatnajökull noch weitgehend auf ungefähre Thesen und bisherige Erfahrungswerte setzen mußte. Der darunterliegende Vukan schweigt schon seit dem 13. Oktober und narrte auch die wartenden Zuschauer: Am Tag vor der Flut hatte ein Brite als letzter der zunächst zahlreich auf die Flut wartenden Reporter und Fotografen Island verlassen.