Annulieren statt scheiden

Chile ist das einzige christliche Land der Welt, in dem die Ehe unauflösbar ist – nachdem auch das katholische Irland mittlerweile über ein Scheidungsrecht verfügt. Die ChilenInnen hindert dies freilich nicht, den Bund fürs Leben mit einem juristischen Trick vorzeitig zu beenden. Laut offizieller Statistik werden in dem Andenland jährlich 6.500 Ehen „annuliert“. Um das Jawort für immer aus dem Register des Standesamtes zu tilgen, reicht es aus, mit Hilfe von ZeugInnen den Familienrichter davon zu überzeugen, daß die Ehe unter falschen Voraussetzungen zustande gekommen ist. Als Annulierungsgründe werden die Angabe eines falschen Wohnsitzes oder die Heirat in einem nicht zuständigen Standesamt akzeptiert.

Die „Annulation“ einer Ehe ist jedoch ein Privileg der Wohlhabenden und begünstigt den wirtschaftlich einflußreicheren Ehepartner. Für die Hälfte der 14 Millionen ChilenInnen, die laut offizieller Statistik mit monatlich höchstens 800 Dollar auskommen müssen, sind die Anwaltskosten für eine „Annulierung“ unerschwinglich. Mangels Scheidungsrecht gibt es in Chile auch keine eindeutigen Regelungen zur Unterhaltspflicht, worunter insbesondere alleinerziehende Mütter leiden. Die Hälfte aller Frauen, die bei der öffentlichen Rechtsberatung für Frauen (CIDEM) vorsprechen, sind „geschiedene“ Mütter mit Kindern, die vergeblich auf Unterhaltszahlungen beim Ex- Mann dringen. Bereits 600.000 Familienhaushalte werden in Chile von Frauen angeführt.

Bezeichnenderweise beeinträchtigt die Unauflösbarkeit der Ehe nicht den Heiratswillen der ChilenInnen. Nach einer Umfrage des Frauenministeriums aus dem Jahr 1993 gaben 70 Prozent aller Befragten an, heiraten zu wollen. Die gleiche Anzahl sprach sich jedoch auch für das Recht auf Scheidung aus.

Dem chilenischen Kongreß liegen zwei verschiedene Gesetzesentwürfe zum Thema Scheidung vor. „Das Thema ist einfacher als das Problem der Abtreibung, weil es um viel Geld geht und Frauen und Männer gleichermaßen betroffen sind“, meint Julia Mendes vom Frauenforschungszentrum CEM. Die Hoffnungen auf eine moderne Scheidungsgesetzgebung hat die Feministin jedoch aufgegeben: „Chile ist weder eine vollständige Demokratie noch ein hundertprozentiger Laienstaat“, erklärt sie. Was auch immer die Parlamentarier beschließen werden, ist sich die Feministin sicher, „es wird ein verwässerter Kompromiß“. Astrid Prange