Traum und Trauma in L. A.

Der Jubel bei den Verkehrsplanern ist verklungen: Mit Ideen aus der Frühzeit des Nahverkehrs kommt die Verkehrswende nicht in Gang  ■ Aus Los Angeles Andreas Knie

Wir kennen Österreich. Vor unserem geistigen Auge sehen wir links Salzburg, etwas weiter unten Innsbruck und rechts Wien liegen. Wir denken an die Alpen, an Flüsse und Seen. Wenn wir uns diese Fläche als eine einzige Stadtlandschaft vorstellen, dann haben wir in etwa eine Vorstellung von der Größe des Los-Angeles-Beckens. Ein riesiger Siedlungsbrei, ohne Anfang und Ende, bestehend aus einem dicht geknüpften Netz von Highways, die Gegenden wie Pasadena, San Bernardino, Beverly Hills oder Hollywood miteinander verbinden. Über die Hälfte der verbauten Fläche von Los Angeles besteht auch aus nichts anderem als aus Straßen.

Im Süden Kaliforniens ist die Liebe zum Automobil stark ausgeprägt. Es verwundert daher nicht, daß im Los-Angeles-Becken etwa doppelt so viele Fahrzeuge zugelassen sind wie in Österreich. Und diese werden durchaus gefahren. Während in europäischen Städten das Auto im Schnitt bei 40 Prozent aller Wege benutzt wird, sind es in L. A. fast 90 Prozent.

Die Luft in der Riesenstadt ist die schlechteste in den ganzen USA. Im Schnitt werden an 104 Tagen im Jahr die Grenzwerte für Ozon überschritten. In Los Angeles sind Traum und Trauma der autogerechten Stadt zu besichtigen. Dies macht die Stadt zu einem riesigen Zukunftslabor für den Verkehr von morgen. Was hier probiert wird, kommt über kurz oder lang auch nach Deutschland: Bleifreies Benzin, Sicherheitsgurt, Katalysator, Airbag, Drive-in's oder Shopping-Malls. Zuerst wurde alles in Kalifornien probiert. „L. A. hat in der Verkehrspolitik immer eine Vorreiterrolle gespielt. Wir beobachten sehr genau, was dort passiert“, heißt es in der Berliner Senatsverwaltung.

Vor wenigen Jahren brach in deutschen Planerstuben großer Jubel aus. Ausgerechnet in Los Angeles sollte die Verkehrswende eingeleitet werden: Die „Metropolitan Transportation Authority“ – für den öffentlichen Nahverkehr zuständig – hatte ein 75-Milliarden-Dollar-Investitionsprogramm gezimmert. Über 20 Jahre verteilt sollte es den öffentlichen Verkehr in Schwung bringen: Die Verkehrsplaner wollten den Busverkehr ausbauen, Schnellspuren für Car-pools einrichten, Fahrgemeinschaften und Verkehrsleitsysteme fördern. Selbst Fahrradspuren und ein neues Straßen- und U-Bahn- System wollten sie bauen.

Zur Zeit existiert ein elf Kilometer langes Teilstück der neuen U-Bahn, die sogenannte Red-line. Es gibt auch bereits zwei Straßenbahn-Linien, Green- und Blue-line getauft, die zusammen eine Streckenlänge von 68 Kilometern haben.

Los Angeles war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Straßen- und Eisenbahnmetropole. Immobilienhändler bauten damals ein schienengestütztes Nahverkehrssystem zur Erschließung des gesamten Beckens. Von insgesamt 42 Stadtgründungen sind 39 der Existenz von Lokal- und Regionalbahnen zu verdanken. Doch die unkontrollierte Zersiedelung des Gebietes schritt so schnell voran, daß schon in den 20er Jahren die für einen profitablen Schienenverkehr notwendige Bündelung der Verkehrsströme nicht mehr gegeben war. Seit den 50er Jahren existiert praktisch kein öffentlicher Schienennahverkehr mehr. Busse bilden seit dieser Zeit das Rückgrat des öffentlichen Verkehrs. Zur Zeit verkehren täglich rund 2.000 Busse. Auch deren Zahl soll im Rahmen des Investitionsprogramms kräftig steigen.

Doch leider scheint sich die Verkehrswende ohne die Angelinos zu vollziehen. Sie verschmähen die neuen Angebote weitgehend. Im vergangenen Jahr transportierte der Schienenverkehr in der Stadt knapp 23 Millionen Fahrgäste. In Tokio zählt man nur in der U-Bahn an einem einzigen Tag über sieben Millionen Personen. Außerdem fahren weniger Menschen mit dem Bus, seitdem es Straßenbahnen gibt. Die Vermutung liegt nahe, daß der Verkehr sich lediglich vom Bus hin zur Straßen- und U-Bahn verlagert.

Die Kritik an dem gigantischen Schienenverkehrsprogramm wächst daher von Tag zu Tag. „Ich kann mir keine größere Verschwendung öffentlicher Mittel vorstellen“, kritisiert Martin Wachs, Professor an der University of California in Los Angeles. Er glaubt, daß sich das Geld besser rentiere, wenn damit der öffentliche Busverkehr auf internationalen Standard ausgebaut würde.

Margaret Crawford, Professorin für Architekturgeschichte und Stadtplanung, geht noch weiter: „Schienenverkehr ist eine typisch männliche Angelegenheit. Hier können Männer endlich ihre alten Kindheitsträume verwirklichen. Männer lieben es, Trassen zu planen und Züge nach festen Fahrplänen herumzuschicken.“ Mit einem modernen Nahverkehrsmittel habe das nichts tun.

Der Los Angeles Times-Kolumnist Al Martinez glaubt ebenfalls, daß der zwangsweise starre Schienenbau die Bewegungsmuster in der Stadt nicht mehr abbilden kann. Das Straßennetz ermöglicht einen permanenten Strom in alle Himmelsrichtungen. Bekannte Wegemuster, von Downtown in die Suburbs, gelten im Los-Angeles-Becken als überholt. Hier kommen alle von überall und wollen auch wieder nach überall zurück. Wenn der Schienenverkehr diesen Service bieten will, müßte praktisch eine dem jetzigen Autobahnnetz vergleichbare Trassenführung geboten werden. Und da sind selbst 75 Milliarden Dollar noch viel zu wenig.

Was sich zur Zeit in der kalifornischen Metropole abspielt, zeigt: Eine auf das Auto hin getrimmte Verkehrslandschaft kann nicht einfach mit Rückgriff in die Geschichte des Schienenverkehrs umgebaut werden. Eine Verkehrswende in die Vergangenheit bringt vielleicht etwas für Nostalgiker. Für den Alltag ist sie ungeeignet. Vielmehr zeigt sich, daß ein attraktiver öffentlicher Verkehr, der flexibel, anpassungsfähig, sicher und angenehm neue Fahrgäste gewinnen will, erst noch erfunden werden muß.