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Heile mit Weile

■ Keine Rezension von Gloria Estefans Hamburger Konzert in der Sporthalle, sondern Fragen zum Dasein

Worauf niemand eine andere Antwort weiß als ein zermürbendes „das kommt drauf an“, ist zum Beispiel die Frage, ob Popmusik Depressionen evoziert, verhindert oder zumindest zu lindern versteht. Natürlich gibt es hier aktuelle Richtwerte: Hört man „Sa A Vida É“ von den Pet Shop Boys, so rappelt sich auch bei starkem Verdruß ein wenig jenes Hüpfsummens auf, das Freude die Bahn bricht. Hört man aber in der Dämmerung Lou Reeds „Perfect Day“, ganz allein, ohne oder aber auch gerade mit Schnaps, dann ist die Lage schnell bedenklich zu nennen.

Nun dauern beide Lieder nicht länger als vier Minuten, aber Heroin spritzen dauert ja nun im Vergleich zur Dauer der Wirkung auch nicht lange. Die bloße Dauer des Vorgangs ist also nicht von Bedeutung. Es ist mal wieder alles wirkspezifisch. Popmusik kann intensivieren. Heroin vielleicht auch, aber gerade als Bewohner von St. Georg kauft man lieber ein paar Platten zuviel.

Wenn Gloria Estefan ihr Kommen und Singen ankündigt, so möchte man sich das nicht gerne entgehen lassen. Auch mit Depressionen? Nun, erneut läßt die Fragestellung eine Pauschalbeantwortung nicht zu. Popgeschichtsfirme Spaßklumpen könnten nun augenzwinkernd „Dr. Beat hilft bestimmt“ schnattern. So hieß nämlich Mitte der 80er Jahre ein großer Hit von Gloria Estefan & Miami Sound Machine. But never trust a dahergelaufenem Spaßklumpen. Was also tun, wenn Lou Reed sein Werk vollbracht und Düsternis verbreitet hat? Zu Gloria Estefan gehen? Berichterstatten? Tanzen? Natürlich.

Wenn Sound eine Maschine sein kann, können Herbst-Taumelnde auch tanzen. Schließlich ist Frau Estefan sturmerprobt: Weil sie ein Star ist und in Miami lebt, tut sie gern Gutes. Als mal wieder ein Hurrikan 1992 Florida heimgesucht hatte, da benefizte Gloria sehr besessen und sang „Always Tomorrow“. Für diese famose Geste erhielt sie 1993 eine Auszeichnung für „außergewöhnliche Menschenfreundlichkeit“. Sowas gibt es nur in Amerika. Dafür gibt es hier nicht solch schlimme Stürme.

Anthropozentrik ist nicht grundsätzlich abzulehnen. Möchte man aber in zweifelhaftem Zustand einer der vorsätzlichen Menschenfreundlichkeit überführten Dame beim Sentimentaussäen behilflich sein? Oder auch nur beiwohnen? Ja und nein. Immer morgen nur nicht heute. Und Lou Reed findet den Tag trotzdem nicht verdorben. Aber was ist, wenn Pop zum Sarkasmus greift? Zynisch gar wird? Dann hat einige Fragen:

Benjamin v. Stuckrad-Barre

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