Losgelöst von Raum und Zeit

■ Ein unmögliches Lexikon: Das englische Dictionary of Art ist erschienen

Ungläubiges Staunen machte sich breit, als vergangenen Dienstag der englische Verlag Macmillan Publishers im Saal 8 des Pro Arte Maritim Hotels sein neuestes Produkt, das Dictionary of Art, der Öffentlichkeit vorstellte. Strenggenommen dürfte es dieses Lexikon eigentlich gar nicht geben.

Ein paar Zahlen: Das Dictionary of Art, das umfangreichste kunsthistorische Nachschlagewerk, das jemals in Angriff genommen wurde, besteht aus 34 Bänden mit zusammengerechnet exakt 30.388 Seiten. Die rund 41.000 alphabetisch geordneten Beiträge des Lexikons stammen von mehr als 6.800 WissenschaftlerInnen aus 120 Ländern der Erde. Die mit insgesamt 15.000 Abbildungen illustrierten Artikel wurden in 26 verschiedenen Sprachen verfaßt und anschließend in der Londoner Verlagszentrale ins Englische übersetzt. Der Index enthält 750.000 Stichworte, in der Rubrik „weiterführende Literatur“ sind 300.000 Einträge verzeichnet. Allein die Liste der deutschen Autoren nimmt drei engbedruckte Seiten in Anspruch. Eine Auswahl der führenden ExpertInnen in Sachen Kunst- und Kulturgeschichte, gewiß, aber auch ein Jahrmarkt der Eitelkeiten. Kein Wunder, daß der Berliner Helmut Börsch-Supan als einer der Wissenschaftler, die an dem Dictionary of Art mitgearbeitet haben, am vergangenen Dienstag neben der redaktionellen Sorgfalt vor allem die „große organisatorische Leistung“ der Herausgeberin Jane Turner lobte.

Vergleichsweise kurz war die Vorbereitungszeit, die der gebürtigen Amerikanerin, die sich zuvor an der renommierten New Yorker Pierport Morgan Library mit flämischen und niederländischen Zeichnungen des Barock beschäftigt hatte, zur Verfügung stand: In nur vierzehn Jahren ist das Mammutwerk aus dem Boden gestampft worden. Wer es erwerben will, muß ordentlich in die Tasche greifen: 14.000 Mark kostet die geballte Gelehrtheit. Jan Jacobs vom Macmillan-Verlag rechnet damit, nur zehn Prozent der Auflage von 6.000 Exemplaren an Privatpersonen losschlagen zu können. Den Rest sollen nach Jacobs' Vorstellungen Universitäten und sonstige Institutionen kaufen. Doch in diesem Fall relativiert sich der Preis: Bislang hat der Verlag für die Herstellung des Lexikons 32 Millionen englische Pfund ausgegeben.

Die Idee, die hinter dem Opus magnum steht, ist so altmodisch, daß man anfangen könnte, an den Verhältnissen zu zweifeln. Anliegen des Dictionary of Art ist es, einen Überblick zu geben über sämtliche künstlerische Leistungen, die die Menschheit seit ihren Anfängen hervorgebracht hat. Von der Höhlenmalerei bis zu Georg Baselitz, von den Bauten des alten Mesopotamien bis zur erdbebensicheren Architektur des Japaners Tadao Andò, vom Zeustempel in Athen bis zu den Fotografien von Richard Avedon – kaum ein Thema, das im Dictionary of Art nicht ausführlich behandelt wird.

Dennoch: Die Lücken sind trotz allem groß, die Kriterien, nach denen die Beiträge ausgewählt wurden, tendenziell willkürlich. Aber auch in dem Punkt herrscht bei Macmillan entrückte Abgeklärtheit. Das Lexikon ist schon jetzt auf dem Weg zum Museumsstück. Es werde, so Herausgeberin Jane Turner, in nicht allzu ferner Zukunft vielleicht veraltert sein. Doch dann hat es immer noch seinen Wert: Künftig wird es selbst zum Forschungsobjekt – als Zeichen seiner Zeit. Ulrich Clewing