Indien muß nicht zum Klimasünder werden

Der Industriestaat Indien setzt noch auf Kohle, Öl und Gas. Doch heimische Wissenschaftler rechnen inzwischen vor, wie mit regenerativen Energien der Sprung ins 21. Jahrhundert preiswerter und erfolgversprechender wird  ■ Aus Pune Rainer Hörig

Singrauli, so schrieb eine indische Journalistin, erinnert an Dantes Inferno. Andere nennen den Ort die Energiehauptstadt Indiens. Fünf Großkraftwerke, eine Aluminiumschmelze, zwei Zementfabriken und ein chemischer Betrieb gruppieren sich um den Rihand- Stausee südlich der Stadt Varanasi. Die Kraftwerke, Gesamtleistung mehr als 7.000 Megawatt, werden aus neun Kohlegruben direkt mit Brennstoff versorgt. Der Tagebau reißt schwarze Löcher in die Erde, Staub und Ruß verdunkeln die tropische Sonne. Mehr als einhunderttausend Arbeiter und ihre Familien hausen dichtgedrängt in schäbigen Kolonien am Rande gewaltiger Schuttgebirge. Das Grundwasser ist mit Schwermetallen verseucht, die Wälder sind längst verschwunden. Mit Hilfe der Weltbank und westlicher Entwicklungshilfe sollen in den kommenden Jahren drei weitere Kohlegruben erschlossen und die Kraftwerkskapazität soll um noch einmal 3.750 Megawatt ausgebaut werden. Derweil organisiert die ortsansässige Bevölkerung Proteste gegen die staatlichen Kraftwerksbetreiber, um die Einrichtung von Schulen und sanitären Anlagen in ihren Siedlungen durchzusetzen.

Gegen jedes Kraftwerk gibt es Proteste

Indiens Energiewirtschaft steckt tief in der Krise. Kaum ein großes Kraftwerksprojekt, das ohne Proteste in Bau gehen könnte. Dabei braucht das Land dringend eine bessere Stromversorgung. Stromausfälle sind überall an der Tagesordnung. Die westlichen Industrieländer und die Weltbank spielen eine tragende Rolle beim Aufbau des indischen Energiesektors. Für 56 große Kraftwerksprojekte hat die Weltbank Kredite von insgesamt neun Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt. Ein Fünftel aller zur Zeit für Energieprojekte vorgesehenen Mittel stammt aus Washington. Damit kann die Weltbank bei der Projektplanung und der Wahl der Technologien ein gewichtiges Wort mitreden.

Auch in der bundesdeutschen Entwicklungszusammenarbeit mit Indien spielt der Energiesektor eine wichtige Rolle. Seit 1961 hat Bonn indische Turbinenhersteller, Kohlebergwerke und Kraftwerksbauten mit mehr als zwei Milliarden Mark unterstützt. Aus deutschen Steuergeldern flossen 171 Millionen Mark in das Singrauli- Projekt. Zur Zeit fördert die Bundesregierung vier Großkraftwerke in Indien, allesamt mit Kohle betrieben. Damit sicherte Bonn deutschen Anlagenbauern und Elektrokonzernen Aufträge.

Der Siemens-Konzern beispielsweise gehört in Indien zu den bedeutendsten Herstellern elektrotechnischer Anlagen. Seit den fünfziger Jahren baut die Firma hier Kraftwerke. „Die Hälfte der derzeit in indischen Wärmekraftwerken installierten Leistung von 60.000 Megawatt basiert auf unserer Technologie“, behauptet Harminder Singh, Vizepräsident von Siemens-India. Seine Firma errichtet gegenwärtig drei große Stromfabriken. In Zukunft will man, so Harminder Singh, auch schadstoffmindernde, neue Technologien für Kohlekraftwerke anbieten.

Westliche Kraftwerksbauer, daheim mit stagnierenden Märkten konfrontiert, betrachten die schnell wachsenden Volkswirtschaften in Asien als lukrative Märkte. Das Energieministerium in Neu-Delhi schätzt, daß Indien seine Stromerzeugungskapazität jährlich um 10.000 Megawatt erhöhen muß, um den steigenden Bedarf zu stillen. „Auch in Zukunft wird Indien hauptsächlich auf Kohlekraftwerke setzen“, meint Ajay Mathur, leitender Wissenschaftler am renommierten „Tata Energy Research Institute“ in Neu-Delhi. „Diese Anlagen bieten zwei Vorteile: relativ kurze Bauzeit und niedrige Kosten. Indien verfügt über reiche Kohlevorkommen, während Erdöl zum großen Teil importiert werden muß.“

Wie das vom Tata-Konzern unterhaltene Forschungsinstitut ermittelte, verursacht die Verbrennung von Kohle in Wärmekraftwerken 70 Prozent der Schadstoffemissionen. Das Verfeuern von Holz, Kuhdung und Ernteabfällen in ländlichen Haushalten, das immerhin 40 Prozent des Gesamtenergiebedarfs des Landes deckt, bewerten die Wissenschaftler als weitgehend schadstoffneutral, weil freiwerdende Kohlenstoffe durch nachwachsende Biomasse wieder gebunden werden. Unterm Strich, so Mathur, werden die indischen Emissionen von Kohlendioxid, dem wichtigsten Klimaschädling, um jährlich sechs bis zehn Prozent anwachsen, sich also in zehn bis fünfzehn Jahren verdoppeln.

In der indischen Wirtschaftsplanung genießt der Ausbau der Energieversorgung oberste Priorität. Doch der Bau neuer Großkraftwerke stößt immer häufiger an finanzielle, soziale und ökologische Grenzen. Deshalb hat die Regierung den Energiesektor für private Investoren aus dem In- und Ausland geöffnet. Wie die Proteste gegen die Narmada-Staudämme und das Dabhol-Gasturbinenkraftwerk (siehe Kasten) zeigen, sind viele Landbewohner nicht bereit, ihre Existenz dem Strombedarf von Städten und Fabriken zu opfern.

Mehr Effizienz und Öko-Strom wären billiger

Erfahrungen mit Großprojekten lehren, daß Subsistenzbauern und Ureinwohner, einmal von ihrem Land und aus der Dorfgemeinschaft entwurzelt, ins Elend abstürzen. Dabei könnte auf den Neubau großer Stromfabriken auf absehbare Zeit ganz verzichtet werden, behauptet der Ingenieur Girish Sant, der für die Bürgerinitiative PRAYAS den Energiesektor des Unionsstaates Maharashtra unter die Lupe nahm: „Unsere Studie weist nach, daß die Stromerzeugung aus fossilen Brennstoffen auf ein Drittel heruntergefahren werden kann. Der Rest könnte aus erneuerbaren Quellen gedeckt oder durch Effizienzsteigerung und Dezentralisierung eingespart werden. Diese Strategie käme etwa 25 Prozent kostengünstiger als der Bau großer Kohlekraftwerke – wohlgemerkt bei gleicher Versorgungsleistung! Das würde der Wirtschaft und auch der Umwelt helfen.“

Kritiker der indischen Energiepolitik streiten nicht ab, daß das Land seine Stromproduktion steigern muß, wenn es die massenhafte Armut beseitigen will. In der Diskussion um den richtigen Weg zu einer ausreichenden Energieversorgung spielt die Frage des Klimaschutzes jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Man ist sich einig, daß für die Bedrohung des Weltklimas in erster Linie die Industriestaaten und ihr verschwenderischer Umgang mit natürlichen Ressourcen verantwortlich sind. Ein Durchschnittsinder produziert etwa ein zwanzigstel soviel Kohlendioxid wie ein Bundesbürger.

Indiens führendes Öko-Institut, das „Centre for Science and Environment“ (CSE) in Neu-Delhi, fordert, daß in der Diskussion um die Rettung des Weltklimas die Frage der sozialen Gerechtigkeit, sowohl zwischen Süd und Nord als auch innerhalb eines Landes, nicht außer acht gelassen werden dürfe. „Die Atmosphäre stellt ein gemeinsames Erbe der Menschheit dar, und daher besitzt jeder Mensch das gleiche Recht an ihrer Nutzung“, stellt CSE-Direktor Anil Agarwal fest. „Eine gewisse Menge an Treibhausgasen kann die Erde verkraften, ohne Schaden zu nehmen, und diese Menge bestimmt den Anteil, den jeder Mensch nachhaltig nutzen kann. Die Menge an Schadstoffen, die in natürlichen Senken abgebaut werden kann, muß unter allen Menschen gerecht verteilt werden, um jedem eine Überlebenschance zu garantieren. Tatsache ist jedoch, daß viele Erdenbürger, insbesondere in den ärmeren Ländern, ihren Anteil gar nicht ausschöpfen. Die Reichen in Nord und Süd dagegen überschreiten die Grenzen bei weitem und verursachen den Treibhauseffekt.“ Agarwal plädiert für einen finanziellen Ausgleich zwischen Verschmutzern und Bewahrern der Erdatmosphäre, etwa über eine internationale Energiesteuer und den Handel mit Emissionsrechten. Die Reichen müßten also für ihre Übernutzung bezahlen, die Dorfgemeinschaften im Süden würden durch deren Abgaben einen Spielraum für wirtschaftliche Entwicklungen gewinnen und obendrein angespornt werden, mehr Bäume zu pflanzen.

Seit 1992 hat Indien ein eigenständiges Ministerium für erneuerbare Energien, das Biogas, Windkraftanlagen und Sonnenkollektoren fördert, kleine Wasserkraftwerke und sparsame Kochstellen baut. Indien gehört nun zu den weltweit führenden Produzenten von Windenergie. Landesweit wurden 80.000 Biogasanlagen errichtet, nur China hat mehr. Die Weltbank, die deutsche und andere Regierungen unterstützen das Programm mit Krediten und Beratungsleistungen. So können alle Beteiligten ihr Engagement bei der Rettung des Weltklimas zeigen: mit einem Bruchteil der mit dem Bau der Großkraftwerke verdienten Millionen.