Wahrheit und Waschkessel

Ein vergessener Wilder: Gaston Chaissac, der Magier der knallenden Farben und eigenwilligen Materialien in Wuppertal  ■ Von Christoph Danelzik-Brüggemann

Der Maler Gaston Chaissac war, was die aufgeklärte Sozialpädagogik „unangepaßt“ nennt. Sehr schnell wird in Wuppertal klar, was das für seine Kunst bedeutet. Den Anfang der Ausstellung bilden Totems, doch mit ihren indianischen Vorbildern verbindet sie außer den anthropomorphen Zügen wenig. Ob sie würdig, ernst oder grimmig dreinschauen, sie sind immer komisch.

Chaissac arbeitete so, wie Picasso es von sich behauptete – er suche nicht, er finde. Jeden beliebigen Gegenstand konnte er mit Farbe überziehen und verwandeln. Seine Figuren sah er in alten Weidenkörben, eine ist in eine Holzpantine gemalt und schaut hinaus wie das Kind aus der Wiege. Der Boden eines gepreßten Waschkessels gerät zur modernen Bocca della Verità. Fundstücke verarbeitete Chaissac nicht zu Skulpturen, sondern eher zu Bildträgern. Entsprechend hat es den Anschein, als wollte sich ein seltsamer Gegenstand durch das Gemälde hindurch an die Oberfläche der künstlerischen Realität vorarbeiten. Aus der Spannung von Bildträger und Bild, die an jüngere Arbeiten von Sigmar Polke denken läßt, resultiert die spielerische Magie der Objekte. In der Wuppertaler Inszenierung wird dieser Effekt gleich an zwei Stellen und sehr unterschiedlich verstärkt.

Vorwiegend kleinere Arbeiten hängen, raffiniert beleuchtet, an den Wänden des ersten Saales. In den übrigen Räumen des Ausstellungstraktes ersetzen Chaissacs Trolle die Bewegungsmelder in den Raumecken. Zudem mischen sich im Saal für Gegenwartskunst in der zweiten Etage größere Totems unter die Kunst der letzten 30 Jahre. Obwohl auch die Möglichkeit bestanden hätte, Chaissacs Werke mit einer kleinen Kollektion seiner Zeitgenossen beziehungsweise Wahlverwandten Giacometti, Dubuffet und Lucebert zu paaren, begegnen sie nun Werken, die etwas zufällig den Weg nach Wuppertal gefunden zu haben scheinen. Ein asketisches Nummernbild von Roman Opalka, das im Jahr nach Chaissacs Tod 1964 entstand, monochrome Gemälde von Ian Davenport und Raimund Girke – nicht das Sehen mit dem Verstand oder aus dem Bauch heraus sind die Gegensätze, sondern verschiedene Weisen des Zugangs zum Werk: Kontemplation auf der einen, Interaktion auf der anderen Seite.

Weniger auffällig inszeniert als die Objekte, bilden Papierarbeiten und Gemälde den Schwerpunkt der Ausstellung. Unter ihnen ist eine Serie von Tuschzeichnungen aus den 40er Jahren, die das Alphabet der damaligen Avantgarde nachbuchstabiert und eine Nähe zum Surrealismus erkennen läßt. Vor allem seine Gemälde aber fesseln durch ihre Prägnanz. Ein frühes Beispiel für diese Faszination ist „Figur mit großen Augen“, eine Gouache aus dem Jahr 1939. Dort plaziert Chaissac den schwarz konturierten Körper vor eine purpurne Fläche. Drei ausgeknallte Farben, schwarze Kontur – nur die Einfachheit der Mittel erzeugt die Magie dieses bannenden Blicks.

Kurzzeitig versuchte Gaston Chaissac sich an informellen Bildern. Zu Recht behauptete er dennoch, er sei „eigentlich kein Märchenmaler“. Zumeist reichen wenige figürliche Elemente, um die Phantasie anzuregen. Es sind Fabelwesen, Menschen aller Stimmungen und Charaktere und manchmal Figuren, die zur „kindlich-naiv-inspirierten Zauberwelt des poetischen Künstlers“ zählen, mit der etwas klischeehaft das Museum die Ausstellung bewirbt. Wer nur auf die Grimassen achtet, übersieht die teilweise schroffen Bildformen. Chaissacs Phantasien sind zu hart für die Kinderstunde.

Der 1910 geborene Gaston Chaissac kam zufällig zur Kunst. Nachdem er früh die Schule verließ, versuchte er sich in einigen Berufen, kurzzeitig begann er auch eine Schusterlehre. Lieber aber noch las und wanderte er. 1937 kehrte Chaissac nach Paris zurück, wo er im Hause seines Bruders wohnte und sich mit seinen Nachbarn anfreundete, den aus Deutschland emigrierten KünstlerInnen Otto Freundlich und Jeanne Kosnick- Kloss. Freundlich animierte den jungen Mann dann zum Zeichnen. Einige frühe Proben zeigen bei aller Naivität schon den Ansatz der späteren Werke.

Freundlich und Kosnick-Kloss machten ihn in der Pariser Kunstszene bekannt, bereits 1938 stellte er in einer Galerie aus. Im gleichen Jahr folgten Sanatoriumsaufenthalte wegen einer Tuberkulose, die er zum Malen nutzte. Nach seiner Heirat 1942 sorgte seine Frau Camille Guibert für den Lebensunterhalt. Als Lehrerin arbeitete sie in der Vendée. In dieser ländlichen Umgebung stieß ein Phantast wie Chaissac, der verrückte Dinge malte und Märchen schrieb, auf feindselige Ablehnung. Im fernen Paris hingegen war er weiterhin bekannt und beliebt. Außenseiterkunst, Art brut, war „in“. Jean Dubuffet, selbst ein Quereinsteiger, förderte Chaissac. Bis 1964 wurden seine Werke regelmäßig in Einzel- und Gruppenausstellungen präsentiert. In seinem Todesjahr drehte das Deutsche Fernsehen ein Porträt des Künstlers.

Das alles klingt nach einer anständigen Künstlerkarriere, vom außergewöhnlichen Start abgesehen. Trotzdem hat sich Chaissac nie wirklich als Künstler etabliert. Er galt als „von der anderen Seite“, Art brut eben, Künstler dank der Definition der Pariser Szene. Kaum ein Museum besitzt seine Werke – und heute, wo Chaissacs Kunst fraglos anerkannt ist, sind sie zu teuer. Zwei Galerien haben den Markt aufgeteilt, die Galerie Messine versorgt französische, die Galerie Nathan (Zürich) deutschsprachige Privatsammlungen.

Dubuffet selbst gibt die Antwort auf die Frage, warum er als Künstler problemlos auf dem Markt integriert werden konnte, Chaissac mit vergleichbarer Kunst hingegen außen vor blieb. So habe Chaissac zwar die modische Vorliebe für unangepaßte Kunst bedient, deren Ursprung in kulturfremden Milieus lag; ebenso selbstverständlich nahm er allerdings auch am intellektuellen Leben teil. In seiner künstlerischen Praxis aber erhielt sich Gaston Chaissac eine Eigenständigkeit, die seinen Zeitgenossen anstößig genug war, daß sie als Außenseiterkunst deklariert werden mußte.

Bis 24. 11. 96, im Wilhelm-Heydt- Museum, Wuppertal; 25. 1. bis 6. 4. 97, Schirn-Halle, Frankfurt am Main, Katalog 36 DM