: Doppelbödige Sheherazade
■ Margrit de Moor liest aus ihrem neuen Erzählband „Ich träume also ...“
Schon der erste Satz ist ein Paukenschlag: „Ich war eine glückliche Frau.“ Mit diesen Worten beginnt die Holländerin Margriet de Moor ihren neuen Erzählband Ich träume also ... und begibt sich damit auf das dünne Eis des Erzählens. Denn was wäre schwerer zu beschreiben als das Glück, ohne ins Sentimentale abzugleiten. De Moors Erzählkunst hält eine einzigartige Balance zwischen Typisierung und Klischee, der Wirklichkeit des Alltags und der Überwirklichkeit des Traumes. Eine Balance, die ihr nur gelingt, weil sie eine Meisterin der Doppelbödigkeit ist. Immer lassen ihre Beschreibungen ahnen, wie vergänglich das Glück ist – und wie tief der Abgrund unter dem Eis.
Welche Macht die Literatur haben kann, schildert de Moor in ihren Schwester-Geschichten: Erzählungen von zwei lesesüchtigen Mädchen, die gemeinsam eintauchen in die Welten Tolstois, Stendhals und Julien Greens. So tief, daß ihre Erinnerungen immer verknüpft sein werden mit den russischen und französischen Romanen. „Beim gnadenlosen Rhythmus einer Rockgitarre dachten wir an unsere erste Liebe und fragten uns aufgeschreckt und mit angeschlagenem Heimweh, von welchem Buch, diesem einen, wir damals eigentlich besessen waren.“
Allein mit der Macht der Erzählung treibt die Stiefschwester der beiden Mädchen die eigene Mutter in den Trübsinn. Keiner weiß, woher sie die Einzelheiten aus dem Leben der Vorgängerin ihrer Mutter kennt, doch sie erzählt: Wie schön sie war, wie beliebt. So genau schildert sie die Verstorbene, daß ihre Mutter am Ende davon überzeugt ist, ihr neuer Mann habe seine erste Frau mehr geliebt als sie. „Erzählen heißt, eine Tatsache nach der anderen herumzudrehen, bis sie perfekt passend ineinanderklicken“, schreibt Margriet de Moor. Selbstbewußt setzt sie Descartes' „Ich denke, also bin ich“ ihr „Ich träume also, ich war ...“ entgegen – und wie Sheherazade schafft sie sich erzählend ein eigenes Universum. „Literatur kommt von der erzählenden Stimme“, sagt die Autorin, und wer die ehemalige Sängerin einmal lesen gehört hat, glaubt ihr aufs Wort.
Diemut Roether
Lesung heute, Heinrich-Heine-Buchhandlung, Schlüterstr. 1, 19.30 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen