„Ihr wißt schon, der Sänger!“

Biermann? Wolf Biermann? Spätestens seit die Brüder und Schwestern im Osten in D-Mark zahlen, hört man Lindi, City, Silly, Renft – kaum noch den seinerzeit ausgewiesenen „preußischen Ikarus“. Aber 60 wird er heute doch!  ■ Von André Meier

Es gibt Dinge, die bleiben rätselhaft. Erst neulich wieder. Die Berliner Volksbühne gedenkt des siebten Jahrestages des Mauerfalls, und im großen Saal werden alte Fernsehbilder gezeigt. Ein noch junger Karl-Eduard von Schnitzler erscheint: „Erheben wir das Glas auf das Wohl unserer Feinde, mögen sie mit jedem Fuß in einem Mercedes 600, ach, was sag' ich, in einem Mercedes 800 stecken, mögen sie in Schlössern oder Wolkenkratzern wohnen, und mögen ihre Wohnungen zehn und noch mehr Zimmer haben, und möge in jedem dieser Zimmer ein eigenes Telefon stehen, rehbraun, anthrazit oder preußischblau, aber mögen sie mit jedem dieser Telefone immer nur drei Nummern wählen können: Feuerwehr, Krankenhaus, Polizei.“

Vollends wird man diese DDR wohl nie begreifen.

Am selben Tag in Fellbach, Wolf Biermann singt. Wo, zum Teufel, liegt Fellbach?

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Rückblende. November 1976, sieben Uhr morgens in der Kantine eines Ost-Berliner VEB. Zwei Dutzend Maler- und Tischlerlehrlinge reiben sich die Augen. Vor ihnen steht der FDJ-Sekretär des Betriebes und fordert: „Jugendfreunde, wir müssen uns von diesem Biermann distanzieren.“

Biermann? Ist das nicht der Alte an der Wabenkernpresse unten im Keller, den sie schon vor einem halben Jahr wegen seiner Sauferei am Arsch hatten? Nein, der ist es nicht. Es geht um den Biermann, „na, ihr wißt schon, der Sänger, der jetzt im Westen bleiben muß, weil er in Köln gesungen hat, daß unsere Arbeiter ihre volkseigenen Betriebe beklauen, stand doch im ND“.

Nein, sie wissen nicht. Sie lesen die Fußballwoche und kennen den Lindenberg. Der will auch in die DDR. Darf aber nicht, was an dem „Mädchen aus Ost-Berlin“ liegen muß, von dem er so oft im „Rias- Treffpunkt“ singt. Mit der hätte jeder am Tisch sofort getauscht, schon wegen der Platten und der Jeans, die Udo sicher kistenweise über den Schutzwall schleppt.

Und was das Klauen angeht – gut, wenn einer seine Küche renovieren muß, geht er ins Farbenlager, bringt Dieter eine Bockwurst und kehrt mit einem Eimer Latexweiß zurück. Wo ist da das Problem? Wenn es schon ausreicht, darüber zu singen, um einmal nach Köln zu fahren, ist die DDR morgen ein Land voller Fischer-Chöre.

Und was heißt überhaupt „distanzieren“, wo dieser Biermann doch ohnehin schon im Westen ist?

Aber gut, wozu den Helden spielen, her mit dem Wisch, „Abscheu und Empörung“, blabla, Freiheit für Angela Davis, für Mikis Theodorakis, für Egon Olsen und alle eingekerkerten dänischen Patrioten, warum nicht auch für Biermann. Egal, Unterschrift und hin zum Tresen, bevor die Schrippen mit dem Fleischsalat schon wieder alle sind.

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Biermann feiert, er wird 60 – na und? Glückwunsch, und Gott schütze seine Prostata, da oben, im windigen Altona. Die Laudatio kann ihm, landsmannschaftlich korrekt, die Heidi Kabel bringen.

23 Stationen hat seine große Geburtstagstournee. Zweimal trifft es die Schweiz, dreimal den Osten, den restlichen Applaus holt sich der Jubilar in der alten BRD.

„Meine lieben Ossis, ich mag sie nicht mehr“, sagte er damals, 1991, bei der Büchner-Preis-Verleihung. Da war der Golfkrieg vorbei und der Barde schon als Frontunterhalter relauncht – ein fröhliches Schalom! „Handgranatäpfelchen spitz unterm Shirt / zwei und zwei und zwei und zwei / Schwirren die Mädelach durch den Kibbuz.“ (aus „David und Goliath“, enthalten auf der neuen CD „Süßes Leben, saures Leben“).

Er hat ja recht, keine Einheit ohne Atomisierung, raus aus dem Ost-Block, lieber von anderen Positionen aus sprechen: als Jude, Bellizist, Makrobiotiker, Gummifetischist, lieber schwul, autonom oder Päderast sein, aber bitte doch kein „Ossi“ mehr, auch kein widerständiger, dissidentischer, aufrechter usw. Die Messe ist gelesen.

Daß nun „die trostlosen Zeiten der literarischen Falschmünzerei und der ewigen DDR-Rabatte endlich vorbei seien“, hoffte schon Peter Rühmkorf im November 1989, als er auf dem Hamburger Flughafen mit dem „kleinen Gernegroß“ zusammenstieß: Die Jahre davor müssen bitter gewesen sein. Kein Monat verging, ohne daß nicht wieder so ein hungriger Zonendödel sein unrasiertes Künstlerkinn über die Mauer geschoben hätte: Hallo, die SED, die mag mich nicht, und übrigens, „ich bin die Gerti aus der D.D.R.“. Das traut sich der Westernhagen auch nicht mehr zu singen, jetzt, wo die Brüder und Schwestern in D-Mark zahlen.

Schade eigentlich, aber noch steht ja Rühmkorf am Airport und ist sauer, weil wieder alle nur über Biermann reden: „Überall, wohin ich blick': Dissidenten, DDRler / leben, seit ich lesen (denken) kann / listig wie die Puppenräuber / vom Primat der Polletick.“ (aus „TabuI“)

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Ein paar Wochen später, noch immer schreiben wir das Schicksalsjahr 89, singt Biermann in Berlin (Ost) im Haus der Jungen Talente. Und Christoph Dieckmann, damals noch beim Sonntag, schreibt gerührt: „Dank an Biermann für zwei Mahnungen. Erstens: keine Wiederver-ei-nigung, vor allem nicht Wieder...! Zweitens: raus aus dem Teufelskreis der Rache! Wer Menschen Schwein nennt, will auch schlachten.“ Geredet wurde viel in jenen Tagen, doch „The Times They Are A-Changing“.

Ein schönes Lied, aber auch, als tausend Ostlerkehlen danach lechzten, er wollte es nicht singen, der Dylan, der Bob, als es ihn 1987 nach Ost-Berlin verschlug. Fürwahr eine Sensation, Dylan in der DDR, die Massen strömten, hin zum sogenannten „Friedenskonzert der FDJ“. Woodstock im Blauhemd? Nein, das konnte nicht gutgehen. Von wegen „the first one now will later be last“. Das sah sogar der Mr. Tambourine Man: Hier, im ummauerten Treptower Park, tickten die Uhren nicht anders, nein, hier gab es überhaupt keine Zeit. So war sie, die bleierne DDR, an der sich der böse Wolf so lange die Revoluzzer-Schwarte wetzte.

Jetzt aber, „oi oi Mama“, können die Zeiger sich nicht schnell genug drehen, und die Glaubensbekenntnisse wechseln wie die Kalenderblätter.

Biermann heute? Ausgetrickst, Herr Rühmkorf – nix DDR. Er feiert den Mauerfall in Fellbach, Ihr schlauer Nachbar: „Ein Hambur

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ger Provinzdichter und mehr Weltenkind als je zuvor“, so jedenfalls B. über B. auf seiner neuen CD mit 17 Liedern, die vom „Spritzenplatz in Altona bis zu den Golanhöhen“ reichen. Der kleine Pionier aus Westdeutschland, Oma Meumes Enkel und Mutter Emmas treuer Sohn, auf Klassenfahrt, vom häßlich roten hin zum Nahen Osten. Kein Dritter Weg mehr, kein besserer Sozialismus, aber jede Menge Fortschritt im privaten Lufthansa- Miles-And-More-Programm.

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Er ist jetzt bei Zweitausendeins zu haben. Der ganze Biermann und, wie das Unternehmen meldet, schon auf der „internen Sellerliste, gleich neben Dire Straits und den Stones“. Da gehört er ja wohl auch hin, zwischen Mark und Mick. Die Legende im Zeitalter ihrer multimedialen Reproduzierbarkeit ist, so man nicht gerade Kurt heißt, Gott sei Dank von der Pflicht entbunden, sich mit 30 die Birne vom Hals zu schießen respektive schießen zu lassen. Schließlich darf sie nun jeder für sich selbst ausblenden, wenn er glaubt, daß die Zeit gekommen ist. So gesehen ist Biermann schon viel zu oft gestorben, und ich frage mich: Wann hat er überhaupt gelebt?

Klar, es gab den 16.November 1976. Biermann war gerade 40 geworden und auf DGB-Tournee im Westen, da meldete ADN: „Die zuständigen Behörden der DDR haben Wolf Biermann, der 1953 aus Hamburg in die DDR übersiedelte, das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen. [...] Mit seinem feindseligen Auftreten gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik hat er sich selbst den Boden für die weitere Gewährung der Staatsbürgerschaft der DDR entzogen.“

Das war, auch wenn es ihn damals im IG-Metall-Dienstwagen auf der Fahrt nach Bochum bei Tempo 160 kalt erwischte, sein Tag. Sicher, es gab ein Davor, und es gibt noch immer ein Danach. Aber mehr als dieses Datum wird von ihm, auch wenn er noch so vielen teuren Toten im Spiegel in die Eier tritt, am Mantel der Geschichte kaum kleben bleiben. Und da hat er noch Glück gehabt. So wie der gute Astronaut Armstrong: Auch die Nasa hätte einen anderen auf den Mond schießen können.

Nun aber brachen im Osten die Dämme. Die SED-Führung hatte hoch gepokert und verloren. Ein prominenter Teil der DDR-Künstlerschaft, der bis dato dank kleiner oder großer Privilegien oder aus einem Rest von Überzeugung dem System die Treue hielt, begehrte auf und protestierte. Die Namen sind bekannt, die Beweggründe auch. Die Gefahr, daß jetzt die Ausbürgerung als finale Stufe im Regelkatalog der DDR-Kulturpolitik einen festen Platz bekommen könnte, war offensichtlich. Ebenso mußte man aber auch zähneknirschend anerkennen, daß der Machtapparat unter Honecker nach der anfänglichen Aussendung schwacher Liberalisierungssignale nun definitiv wieder aufs stalinistischste funkt.

Aber da war noch etwas, und auch das sollte man nicht verschweigen. Wer die Erinnerungsbücher von Krug („Abgehauen“) und Heym („Der Winter unsers Mißvergnügens“) liest, wird erkennen, in welch dumpf-inzestuösem Geflecht sich die semikritische Kulturelite in der DDR zu diesem Zeitpunkt schon verfangen hatte. Suff, Neid, Mißtrauen und Größenwahn, eine trostlose Melange und vielleicht den Wandlitzer Verhältnissen näher, als man es heute, mit Rücksicht auf die aufrechten Kämpen, wahrhaben will. Kein Wunder, gab es doch weder eine Boulevardpresse noch eine echte Kritik, die dieser selbstgerechten Blase hin und wieder heilsam auf die Rübe klopfen durfte.

Als ernstzunehmendes Korrektiv blieb nur der Westen, der aber wiederum neigte naturgemäß dazu, vor allem leicht dechiffrierbar Dissidentisches in Werk und Vita zu honorieren.

Wäre also die Szene nach der Biermann-Ausweisung geschlossen zur Tagesordnung übergegangen, hätte sie ihren DDR-Tanzbärenstatus unwiderruflich zementiert und sich damit wohl zugleich auf lange Zeit den Zutritt zum Resonanzraum „West“ selbst verbaut. Heym zu Kunert im Hause Hermlin: „Was soll man denn sagen, die im Westen sind immer gleich mit Erklärungen zur Hand, bei uns muß man sich jedes Wort überlegen, jedes Wort hat Folgen.“ Dann aber schreiben sie: „...und bitten darum, die beschlossenen Maßnahmen zu überdenken.“

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Szenenwechsel. November 96, eine Geburtstagsparty irgendwo im Prenzlauer Berg. Die Gäste: Menschen zwischen 20 und 40, leicht angesoffen, teilweise bekifft. Seit über einer Stunde läuft alte Ostmusik: Nina Hagen, City, Silly, Holger Biege, Manfred Krug, Renft und die Gruppe Kreis. Biermann? Nee. Nicht daß man ihn nicht kennen würde. Fast jeder im Raum hat eine oder zwei Zeilen parat. Aber keiner hier kann sie pfeifen, so wie Ottilie Krug (Persil Mega-Perls) Biermanns „Leben steht nicht auf dem Spiele, euer Wohlleben ja nur“ ihrem Manne pfiff, als der sie vor 20 Jahren zu einer Diplomatenparty in die Leipziger Straße fuhr.

Biermanns Musik hatte wohl auch keine Chance, im kollektiven Ostgedächtnis haften zu bleiben. Die Bänder oder Kassetten, die von seinen im Westen gepreßten Platten im Untergrund kursierten, waren von grausamer Qualität und ihr öffentliches Abspielen nicht nur deshalb strafrechtlich relevant. So las man die Lieder mehr, als daß man sie hörte, und die konspirativen Begleitumstände ihrer Aneignung sorgten dafür, daß man sie allein als politische Manifeste rezipierte. Außerdem – und auch dies sollte man nicht unterschätzen – lief Biermanns expressiv-konkrete Ätzlyrik seit Anfang der 70er Jahre am DDR-internen Zeitgeist vorbei. Die Hardcore-Widerständler, die vielleicht ein solch lustvoll links-romantisches Vatermorden hätten goutieren können, kehrten dem Land in Scharen den Rücken. Der weniger dissidentische Rest kungelte mit Stasi, SED, FDJ, Mitropa, HO, Konsum, Anglerverein oder Oktoberklub und tröstete sich über die engen Verhältnisse mit metaphernreichem Kuschelrock hinweg: „Klagt ein Vogel ach auch mein Gefieder / Näßt der Regen flieg ich durch die Welt.“ (City, „Am Fenster“)

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Nun ist der Käfig seit längerem offen. Aber die Vögel aus dem Osten pfeifen noch immer ihre kompromißlerischen Lieder.

Nein, die Geschichte ist nicht gerecht, aber eine Hoffnung bleibt, sie geht weiter. In der Volksbühne lacht man – über Schnitzler. Und irgendwo tief im Westen, zwischen Kibbuz und Kai, singt Biermann: „Ein junger Maurer und 'ne Krankenschwester war'n dabei / Vom Bürgerkomitee geschickt und schwer verknallt die zwei.“