■ Vorschlag: Der Klarinettist Wilkomirski – Konzert und Lesung in Potsdam
Binjamin Wilkomirski, Klarinettist und Instrumentenbauer aus Zürich, versteht sich selbst nicht als Schriftsteller. Dennoch hat er ein atemberaubendes Buch geschrieben, das derzeit in acht Sprachen übersetzt wird. Anders als die Romane manch ausgelaugter Großautoren, die eine Handvoll Rechercheure in die Spur schicken, um ihre Leserschaft mit Authentischem zu erfreuen, lebt das Buch von Wilkomirski in jeder Zeile von der Dichte der eigenen Erfahrung. Der Autor weiß nicht, wann genau er geboren wurde, er wächst bei Pflegeeltern in der Schweiz auf, und erst als 50jähriger gibt er seinen eigentlichen Namen preis. Im vergangenen Jahr ist sein Buch „Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-48“ erschienen, in dem er seine Erinnerungen an eine Kindheit im KZ Majdanek und die Erlebnisse des Pflegekindes in der Schweiz aufgezeichnet hat. Er erinnert sich an die Ankunft im Lager, an seine vier oder fünf Brüder, an die Spiele der Kinder im Konzentrationslager und an den Tod der Mutter. Auch nach der Befreiung ist das Kind nicht wirklich frei. Was Alltag, Leben und Tod bedeuten, hatte es im Lager gelernt. Mit dieser Wahrnehmung blickt der sechsjährige Binjamin auf die Schweizer Normalität, die ihm unheimlich erscheint. Das Urvertrauen des Kindes in die Welt ist gebrochen, der natürliche Anspruch auf Schutz und Geborgenheit hatte keine Chance in der Welt des Vernichtungslagers. Als das Kind schließlich in die Schweiz kam, dort untersucht wurde und mit der Eisenbahn zu den Pflegeeltern fahren soll, beginnt ein Drama: „,Nein! Kein Transport! Nein! Ich will nicht auf Transport!' kreischte ich verzweifelt (...). Sie versuchten, dem Wort ,Transport' andere Namen zu geben, aber ich ließ mich nicht beirren. Ich kannte ja das Wort aus eigener Erfahrung und aus den Erzählungen vieler Kinder. Auf die Frage nach Eltern oder Geschwistern hatte ich immer wieder zur Antwort bekommen: Sie sind auf Transport! Und stets hieß das: Sie waren weg – für immer.“
Schließlich trifft Binjamin doch noch bei den Pflegeeltern ein. Die Mutter stellt ihm das neue Zuhause vor: „,Hier ist die Waschküche', sagte sie, ,und hier der Trockenraum und da der Vorratskeller mit dem Obst.' Sie öffnete eine schwere Tür, eine schwache Lampe wurde eingeschaltet: Ich traute meinen Augen kaum. Da waren Holzgestelle! Und auf den Holzgestellen lagen Äpfel; die Holzgestelle aber glichen Holzgestellen, die ich kannte. Ich glaubte nicht mehr, was sie sagte. Ohne die Äpfel sehen die Gestelle aus wie Pritschen, wie Pritschen in der Baracke. Nur etwas kleiner, gerade recht für Kinder, dachte ich erschrocken. (...) ,Und nun die Kohleheizung. Wir machen auch warmes Wasser damit', sagte sie unbeteiligt. (...) Die Frau öffnete eine halbrunde Klappe, nahm die Schaufel, warf ein wenig Kohle hinein, ich konnte die Flammen sehen. Entsetzt starrte ich auf das Ungeheuer. Also doch! Mein Verdacht war richtig. Ich bin in eine Falle geraten. Die Ofenklappe ist zwar kleiner als normal, aber für Kinder geht es. Ich weiß es, ich habe es gesehen, man kann auch mit Kindern heizen.“ – Heute vormittag liest der Schauspieler Ulrich Anschütz (Gorki-Theater) im Rahmen einer Lesereihe des Literaturbüros in Potsdam aus den Erinnerungen von Wilkomirski. Musikalisch begleitet wird die Lesung von Binjamin Wilkomirski (Klarinette) und Edwin Diele (Piano). Peter Walther
Beginn: 11 Uhr, Ort: Filmmuseum Potsdam
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