Jenseits der Propaganda

Die Chinareportagen des ausgewiesenen Journalisten Henrik Bork: Facetten einer Gesellschaft  ■ Von Eva Sternfeld

Während eines Cocktailempfangs des chinesischen Außenministeriums nahm die Beamtin Liu Zhiping aus der Westeuropaabteilung den deutschen Korrespondenten beiseite. „Herr Bork, Sie haben Persönlichkeiten der Volksrepublik China attackiert. Sie haben einseitig negativ und aggressiv über China berichtet“, sagte sie ernst. Etwa ein Jahr später war Henrik Bork, der für die Frankfurter Rundschau und acht weitere deutschsprachige Tageszeitungen aus China berichtet hatte, seinen Arbeitsplatz in Peking los. Bork habe innerhalb von vier Jahren keinen einzigen objektiven Bericht geschrieben, begründete der chinesische Botschafter Zhao Meirong in Bonn die Ausweisung. „Der Botschafter in Bonn hat völlig recht: In diesen vier Jahren habe ich keinen einzigen objektiven Bericht geschrieben“, resümiert Bork in seinem jetzt erschienenen Buch. Wie kann Berichterstattung über ein Land „objektiv“ sein, in dem westliche Journalisten ihre Reportagen anmelden und genehmigen lassen müssen und zufällig Erfahrenes häufig nicht berichten können, um ihre InformantInnen nicht unmittelbar zu gefährden?

Dennoch ist es Bork, der ausgezeichnet Chinesisch spricht, immer wieder gelungen, abseits der vorgegebenen Themen zu recherchieren und damit in Deutschland ein Chinabild zu vermitteln, das um einiges authentischer ist, als es Chinas Propagandastrategen lieb sein kann.

Bork notiert, was ihm ein nach Peking gekommener Wanderarbeiter über die brachiale Durchsetzung der Bevölkerungspolitik in seinem Heimatdorf berichtet, und er spitzt die Ohren, wenn im Pekinger Reitklub die „Kronprinzen und -prinzessinnen“ – Söhne und Töchter der Nomenklatura – „über das Leben danach“, sprich: den Tod des Patriarchen Deng Xiaoping, spekulieren. Er beschreibt eine Gesellschaft im Umbruch. Da sind die Neureichen, die zu einer Spritztour mit dem Ferrari einladen und im Pekinger Lufthansa- Kaufhaus stapelweise Yuan-Noten hinblättern, um eine Rolex-Uhr oder einen Zobelmantel zu erstehen. Und da ist in einem Bergdorf, nur 100 Kilometer von Peking entfernt, der 13jährige Jin Xueqiao, den seine Eltern aus der Schule nehmen mußten, weil sie das Schulgeld von 35 Yuan (sechs Mark) im Jahr nicht aufbringen können. Da sind die Spezialitätenrestaurants, in denen die neue Schickeria mit Vorliebe verspeist, was auf dem Index der Tierschutzgesetze steht, seien es nun Wildeulengulasch, Bärentatzen, Affenkoteletts oder Ragout vom Pangolin. Und da ist der bescheidene Fortschritt der Bauern, etwa zwei Autostunden von Chinas reichster Stadt Guangzhou entfernt, denen 15 Jahre Reformpolitik gerade mal zu einer Schale Reis statt Mais verholfen hat, die sie sich nun einmal in der Woche statt früher einmal im Jahr leisten können.

Beklemmend beschreibt Bork das Klima einer Gesellschaft, die sich einer Neuauflage des Manchesterkapitalismus verschrieben hat und deren politische Sphäre durch den autoritären Apparat einer sich mit allen Mitteln an die Macht klammernden Komunistischen Partei bestimmt wird. Für individuelle Selbstbestimmung läßt diese Konstellation wenig Raum. Das bekommt ein Bekannter Borks, ein Anwalt, der in Petitionen die chinesische Regierung zum Schutz von Arbeitnehmerrechten aufgefordert hat, ebenso zu spüren wie die 38jährige Frau, deren ungenehmigte Schwangerschaft zwei Tage vor dem planmäßigen Geburtstermin entdeckt wird. Der Anwalt wird eines Nachts von der chinesischen Stasi verschleppt. Bis heute wird er ohne Gerichtsverfahren in einem Arbeitslager in Nordchina an der sibirischen Grenze gefangengehalten wird. Die Frau, die gegen die Bevölkerungspolitik verstoßen hatte, wurde zwangsweise in ein Krankenhaus eingeliefert, wo eine Ärztin die Geburt einleitete und anschließend das Kind in einem Wassereimer ertränkte.

Kein Einzelfall. Auf das Thema Menschenrechte reagieren Chinas Machthaber äußerst allergisch. Als 1994, während Li Pengs Deutschlandbesuch, die Kritik an Menschenrechtsverletzungen und seiner Verantwortung für den Militäreinsatz gegen die Demokratiebewegung nicht von ihm ferngehalten wird, läßt der chinesische Ministerpräsident es zum Eklat kommen und bricht die Visite vorzeitig ab. Später wird der chinesische Botschafter in Bonn – durch den verpatzten Besuch selbst in Rechtfertigungszwang geraten – einen Sündenbock suchen und seine Analyse nach Peking kabeln. Bork habe durch seine Berichterstattung die antichinesische Stimmung in Deutschland geschürt.

Henrik Bork: „Chinas Wirklichkeiten. Ein ausgewiesener Reporter berichtet“. Campus, Frankfurt 1996, 288 Seiten, 35 DM