Hier ist ein anderer Himmel

Ein literarisches Ereignis: Soma Morgensterns epische Darstellung des jüdischen Lebens in Ostgalizien liegt jetzt erstmals vollständig auf deutsch vor. Die Trilogie „Funken im Abgrund“ ist ein großer Bildungsroman  ■ Von Stefana Sabin

Für Soma Morgenstern, 1890 im ländlichen Ostgalizien in eine orthodoxe jüdische Familie hineingeboren, bedeutete schon das weltliche Gymnasium einen Bruch mit der Tradition; das Studium an der Universität in Wien und der Militärdienst während des Ersten Weltkriegs waren weitere Schritte auf dem Weg der Assimilation. Als er 1921 das Jurastudium mit der Promotion beendete, versuchte Morgenstern, sich als Theaterkritiker zu etablieren, und zog nach Berlin. Es waren aber hauptsächlich seine Buchbesprechungen, die ihm eine gewisse Bekanntheit verschafften und ihm eine Stelle einbrachten: Als Kulturkorrespondent der Frankfurter Zeitung kehrte Morgenstern 1928 nach Wien zurück.

Zu seinen ersten Aufträgen gehörte ein Bericht über den Weltkongreß Thoratreuer Juden, der im September 1929 in Wien stattfand. Die Versammlung von sechshundert kaftangekleideten Juden mit Bart und Schläfenlocken erinnerte den assimilierten Juden Morgenstern an seine orthodoxe Familie und machte ihm die jüdische Tradition wieder gegenwärtig. Den Zeitungsbericht brachte er nicht zustande, aber dieser jüdische Kongreß war der Anlaß für ihn, schreibend zur Welt seiner Kindheit zurückzukehren. So begann er die Arbeit an einer Romantrilogie über das jüdische Leben in Osteuropa, über Assimilation und Tradition – einer Trilogie, die er zuerst „Die gelobte Welt“ und dann, unter dem Eindruck von wachsendem Antisemitismus, „Funken im Abgrund“ betitelte.

Der erste Roman konnte noch 1935 in einem Berliner Verlag erscheinen, durfte aber nach den Bestimmungen der Nationalsozialisten nur an Juden verkauft werden, und so blieb das Echo gering. Das Manuskript des zweiten Romans war in Morgensterns Gepäck, als er, infolge des NS-Schriftleitergesetzes der Korrespondentenstelle enthoben, am Tag des österreichischen Anschlusses nach Paris flüchtete. In Paris, wo er eine Zeitlang mit Joseph Roth zusammen wohnte, schrieb Morgenstern den dritten Roman seiner Trilogie. Das Manuskript aber gelangte in die Hände der Gestapo, als er 1940 vor der einrückenden deutschen Armee nach Südfrankreich floh. Über Marseille, Casablanca und Lissabon gelangte Morgenstern 1941 nach New York und schrieb dort die ganze Trilogie neu. Unter dem Titel „Sparks in the Abyss“, „Funken im Abgrund“, erschien Morgensterns Trilogie zwischen 1946 und 1950 in englischer Übersetzung in den USA und brachte ihm viel Kritikerlob und den Preis für das beste Buch des Jahres 1950, aber wenig Publikumserfolg ein. In den 50er und 60er Jahren schrieb Morgenstern unermüdlich Autobiographisches, Essayistisches und Fiktionales über das osteuropäische Judentum, über dessen Vertreibung und Vernichtung. Nur wenig davon wurde veröffentlicht, und als er 1976 in New York starb, nahm die kulturelle Öffentlichkeit von seinem Tod kaum Notiz.

Nach den Bänden zu Joseph Roth und zu Alban Berg und nach den Erinnerungen an die „Jugendjahre in Ostgalizien“ liegt Morgensterns Hauptwerk, die Trilogie „Funken im Abgrund“, zum erstenmal in der Originalfassung vor. Es ist ein großes Werk europäischer Erzählkunst: ein Gesellschaftsroman, in dem die untergegangene Welt des ostgalizischen Landjudentums literarisch festgehalten wird, und ein Bildungsroman, in dem die Zerrissenheit zwischen Anpassung und Abgrenzung beschrieben und die Besinnung auf die jüdische Tradition nachvollzogen wird.

So sehr Morgensterns Trilogie jüdische Literatur ist, so sehr ist sie Weltliteratur, weil das prekäre soziale und kulturelle Gleichgewicht zwischen jüdischen und nichtjüdischen Bauern, das politische Kräftespiel und die individuellen Verstrickungen ein Panorama menschlicher Gefühle und Beweggründe ergeben. Morgensterns Trilogie ist ein tolstoisches Epos, das individuelle Lebensläufe vor dem Hintergrund des Weltgeschehens darstellt und Menschen und Landschaften in Beziehung zueinander setzt. Viel Handlung, wenige Figuren und eine klare Erzählstimme machen die Romane zu einer leichten Lektüre, Beschreibungen und Reflexionen haben eine welthaltige Dimension.

„Alles Gute gesegneter Kunst ist hier beisammen: Farbe, Licht, Kraft, Spannung“, schrieb Stefan Zweig 1935 beim Erscheinen des ersten Romans, „Der Sohn des verlorenen Sohnes“. Darin trifft der ostgalizische Gutsbesitzer Welwel Mohylewski während des Kongresses Thoratreuer Juden den Sohn seines konvertierten Bruders; dieser „Sohn des verlorenen Sohnes“ läßt seine bürgerliche Wiener Existenz hinter sich und zieht in das polnisch-ukrainisch-jüdische Dorf zu seinem Onkel. Das geographische Muster des Bildungsromans, die Bewegung der Hauptfigur vom Land in die Stadt, kehrt Morgenstern um: Sein Held findet zu sich selbst im ostgalizischen Dorf, wo ihn ebensoviel Lebenserfahrung wie Thoraunterricht erwarten. Jankel, der lebensweise und ungläubige Gutsverwalter, erklärt ihm die sozialen Regeln des Dorfs und bringt ihm bei, wann und wie die Ernte einzubringen ist; und der fromme Onkel Welwel erklärt ihm das jüdische Gesetz und bringt ihm bei, wann und wie die Thora gelesen wird. Der junge Mann arbeitet auf dem Feld und zelebriert den Sabbat. Der erste Roman endet im Betzimmer, und der zweite, „Idyll im Exil“, fängt mit der Bemerkung „Hier ist ein anderer Himmel“ an. Der Himmel ist tatsächlich anders als in Wien: physisch wie metaphysisch ist er klarer und näher.

Aber während der junge Mann unter der Anleitung seines frommen Onkels zum Glauben und der Tradition zurückfindet, wachsen unter der Hetze des polnischen Gemeindeschreibers die antisemitischen Ressentiments der Dorfbevölkerung. „Es ist ein uraltes Spiel. So ist es immer vor sich gegangen“, stellt Jankel fest. „Man macht aus den Juden einen Dämon in den Städten und einen Bauernschreck auf dem Lande. Das weitere ist dann leicht.“

Ein zwölfjähriger jüdischer Junge wird während eines Pogroms ermordet, und kurz darauf unterbreitet ein Beamter dem Gutsbesitzer einen neuen Plan der Regierung, die Juden aus Polen zu vertreiben und sie in einer bestimmten Gegend als polnische Kolonie anzusiedeln. „Wo leben wir, Welwel? In der Verbannung, Jankel. Es war aber doch früher anders, Welwel. Es war eine Atempause, Jankel.“

Der zweite Roman endet ebenso pessimistisch, wie der erste optimistisch endete: Die Hinwendung des „Sohns des verlorenen Sohnes“ zum Judentum stand für das Fortbestehen der Tradition in der Fremde – der Tod des jüdischen Jungen markiert das Ende des „Idylls im Exil“, das Ende des Traums vom Zusammenleben. „Man fragt längst nicht mehr nach der Konfession. Man prüft jetzt die Juden aufs Blut.“

Wie Nachbarschaft in Feindschaft umschlägt, erzählt der dritte Roman, „Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes“. Darin bekennt sich der Held je entschiedener zum Judentum, je gefährdeter es wird. Sein Bekenntnis ist auch die Erfüllung des väterlichen Vermächtnisses, denn er muß erkennen, daß der abtrünnige Vater den jüdischen Glauben nie wirklich abgelegt hatte. Das „Vermächtnis des verlorenen Sohnes“ an seinen Sohn ist die Erkenntnis von der Hoffnung der Assimilation und von ihrer Hoffnungslosigkeit, und die Antwort des Sohnes auf die Qual des Vaters ist nicht nur die Hinwendung zur Tradition, sondern auch der Versuch, diese Tradition zu erhalten: Der Sohn beschließt, auf dem Gut eine Landwirtschaftsschule einzurichten, in der junge Juden auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet werden sollen. „Der Mensch ist kein Baum, hat ein weiser Mann gesagt. Gott hat dem Menschen zwei Beine gegeben, damit er auch eine Heimat verlassen kann, wenn sie feindselig und bösartig geworden ist.“ Nachdem Assimilation und Abgrenzung gleichermaßen versagt haben, gibt der zionistische Gedanke neue Hoffnung: So endet der dritte Roman wieder optimistisch.

Aber die Trilogie ist von einem untergründig wachsenden Gefühl der immanenten Gefährdung getragen: Die Funken der Hoffnung im Abgrund des Exils verglühen. Die ganze Tragödie der europäischen Judenheit im 20. Jahrhundert hält Morgensterns Trilogie in einem großangelegten Gesellschaftsbild literarisch fest. Dabei rekonstruiert er die galizische Landschaft zwischen Sereth und Strypa und entwickelt eine Typologie des gläubigen Juden vom Anhänger der Tradition bis zum chassidischen Fanatiker und eine Typologie des Antisemiten vom harmlosen Spötter zum gefährlichen Gewalttäter. In nüchterner und dennoch suggestiver Sprache mit expressionistisch gesteigerten Parabeln verwebt er das realistische Erzählen mit Elementen der magischen jiddischen Volksliteratur zu einem großen Epos, einem Meisterwerk, dessen Erscheinen fünfzig Jahre nach seinem Entstehen ein literarisches Ereignis ist.

Soma Morgenstern: „Funken im Abgrund“. Romantrilogie.

I.: „Der Sohn des verlorenen Sohnes“. 282 Seiten, 64 DM.

II.: „Idyll im Exil“. 379 Seiten.

76 DM.

III.: „Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes“. 397 Seiten, 78 DM. Alle im Verlag zu Klampen, Lüneburg 1996