Früher oder später gehen sie

Die vielen Tore der Brüder Mpenza aus Zaire haben ein winziges belgisches Schlafstädtchen auf die Landkarte des Fußballs gebracht  ■ Aus Mouscron Falk Madeja

Sonntag abend an der Eisenbahnlinie zwischen Brüssel und Paris, eine Handvoll Kilometer von der berühmten Radsporthölle Roubaix. Mouscron, eine Schlafstadt mit 35.000 Einwohnern. Vom Bahnhof ziehen sich düstere, verwinkelte Straßenzüge mit niedrigen und verschlossen wirkenden Häusern in die Dunkelheit, hier und da schaukelt eine Laterne. Nach einigen hundert Metern erhellen Flutlichter die Nacht. Polizisten dirigieren mit Leuchtstäben. Dann kommt das Stadion Le Canonnier. „Allez! Allez! Allez!“ rufen dort eine Stunde vor Spielbeginn Tausende rot-weiß gekleidete Fans. „Allez Mouscron! Allez Mpenza! Allez Mbo! Allez Lokonda!“

Die beiden Lieblingsspieler der Mouscronnois, Mbo (19) und Lokonda (20) Mpenza aus Zaire, sitzen derweil noch in der Kabine und kratzen sich bescheiden am Kopf. Was haben sie da nur ausgelöst?

Ganz Belgien spricht von Mouscron – und die Späher europäischer Spitzenklubs sprechen von den jungen Angreifern mit den Rastalocken. Der Ajax-Scout war schon da, der von Juventus auch. Noch aber stürmen die Mpenzas in Mouscron – schnell, elegant und doch noch hinreißend fußballnaiv. Neun Tore haben Mbo und Lokonda zusammen schon geschossen, und Royal Excelsior Mouscron hat kurzzeitig die Gesetze der Fußballmarktwirtschaft außer Kraft gesetzt. Der Klub steht derzeit auf Rang drei der Tabelle.

Mouscron in der Champions League? Jedenfalls können die großen belgischen Klubs hier nicht gewinnen. Anderlecht verlor in dem Fußballdorf, Tabellenführer Standard Lüttich holte nur einen Punkt, und auch dem FC Brügge sollte es an diesem Novemberabend nicht gut ergehen. Zum Vergleich: Brügge hat einen Etat von umgerechnet etwa 15 Millionen Mark, Royal Excelsior etwa vier Millionen.

Das Spiel beginnt für die Anhänger von Royal Excelsior mit Hamburgern, unzähligen Bechern Bier, Fritten und Kuchen. Mouscron ist in wenigen Jahren aus der vierten Liga in die erste Division geklettert, Fußball sehen ist dort noch gesellig. In der „Frituur“, wie die Wagen mit dem Pommes- frites-Verkauf in Belgien heißen, liegen statt fertig angelieferter Industriefritten rohe Kartoffeln. Den Kuchen verkauft die örtliche Bäckerei vom Brett. Hinter einem Tor steht ein Waggon – aus dem werden die Karten für die nächsten Heimspiele verkauft. Es gibt keinen Zaun.

Die Haupttribüne ist wohl hundert Jahre alt und besticht vor allem durch eine verblüffende Anzahl von Getränkeausgabestellen nebst einem verglasten Bier-Café. Trainer Georges Leeskens (47), der einst Anderlecht und den FC Brügge trainierte, spöttelt: „Wenn die Tribüne voll ist, müssen Freiwillige sie von unten stützen, sonst fällt sie zusammen.“

Georges Leeskens, als Spieler fünfmal Meister mit dem FC Brügge, verrichtete Pionierarbeit. „Ich mußte alles neu anfangen. Die medizinische Betreuung verbessern, neue Trainingszeiten einführen, die Jugendausbildung radikal verändern. Wir werden nie Spieler kaufen können, sondern müssen sie uns selbst ausbilden.“

Mouscron genießt den Augenblick. Irgendwann werden die Fußballgesetze wieder in Kraft treten. Irgendein Riesenklub wird wegen der Mpenzas mit dem Scheckbuch wedeln und notfalls das „kleine Klübchen“, wie es Leeskens nennt, ganz und gar aufkaufen. Die beiden Burschen aus Zaire kickten im Vorjahr noch bei Kortrijk – ein paar Minuten weg in Flandern. Dann hatte Mouscrons Bürgermeister Jean-Pierre Detremmerie eine geniale Idee. Der König seiner Stadt besorgte dem arbeitslosen Papa Arsène Mpenza einen Job in der Apotheke von Mouscron.

Vor Jahren war Mouscron fast nur von Arbeitslosen bewohnt, dann bekam Detremmerie die Sache in die Hand, richtete einen Gewerbepark ein, und auch wenn neuerdings Gerüchte auftauchen, daß er dabei gewisse Unsauberkeiten mit EU-Subventionen auf dem Kerbholz haben soll, geht es seitdem aufwärts. Natürlich war der Ex-Kicker von Excelsior lange Jahre auch Präsident. „Unsere Welt besteht aus Abrechnungen von Gewinnen oder Verlusten“, sagt er, „Fußball wird überall als Produkt angesehen, für uns ist es noch eine Sache von Menschen.“ Die Sponsoren haben wohl auch wegen des unwiderstehlichen Charmes von Detremmerie ihre Francs in den einst grauen Klub gesteckt. Detremmerie sagt: „Nun weiß durch unsere Leistungen jeder, wo Mouscron eigentlich liegt.“

Natürlich ist der Erfolg von Royal Excelsior Mouscron auch ein Zeichen für die Krise des belgischen Klubfußballs. Seit zehn Jahren geht alles abwärts. Stadien fallen zusammen, Staatsanwälte legen Schwarzgeldquellen trocken, gute Ausländer kommen wegen der gesunkenen Gehälter nicht mehr. Seit dem Bosman-Urteil wandern die jungen Talente ab. Der Tabellenzweite FC Brügge etwa verlor mit Okon und Stanic in ein paar Monaten die beiden Stars an Italiens Liga – und in Mouscron mit 0:1.

Die Spieler des FC Brügge erzählen, sie seien von den 9.700 Zuschauern beeindruckt gewesen. Journalisten interviewen die nackten Mouscronnois in der Kabine – eine Pressekonferenz mit Tisch und Mikrofonen gibt es nicht.

Die Mpenzas, die sich gegen die Verteidiger Brügges nur selten durchsetzen konnten, wiegen vor den Fernsehkameras bescheiden ihre Köpfe und wissen auch nicht, wie das alles so kommen konnte. Bei Papa Arsène haben in den letzten Tagen wieder ein paar Manager aus Italien angerufen. Aber die Brüder, die noch zur Schule gehen und einen belgischen Paß haben, sagen, sie wollten vorerst in Mouscron bleiben.

Was morgen kommt, weiß man. Da erwartet man als Tabellendritter Charleroi. Was übermorgen wird, kann man ahnen. Früher oder später werden die Mpenzas gehen. Trainer Leeskens auch. Vielleicht wird Mouscron dann schnell wieder das sein, was es immer war: der Schlafplatz an der belgisch-französischen Grenze, kurz vor der Radsporthölle von Roubaix.